Im August 1943 stirbt in einem englischen Sanatorium eine junge Frau, die keinen Platz in dieser Welt gefunden hat. Sie stirbt im Alter von 34 Jahren, weil sie aufgehört hat zu essen; und sie hat aufgehört zu essen, weil nichts ihren Hunger nach absoluter Wahrheit stillen konnte.
Wer sich mit Simone Weil beschäftigt, schwankt zwischen Bewunderung und Ratlosigkeit. Die Philosophin entzieht sich jedem Raster: radikale Wahrheitssucherin; Aktivistin für die Rechte der Arbeiter, ohne sich von einer Partei vereinnahmen zu lassen; scharfsinnige Analystin der politischen und sozialen Verhältnisse, die dennoch – selbst Jüdin – den Holocaust komplett ausblendet; christliche Mystikerin ohne geistliche Heimat.
Gerechtigkeitssinn und ein Herz für Leidende
Von Kindheit an zeichnet sich Simone Weil durch einen starken Willen aus, einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ein großes Herz für alle, die leiden. Ihre Eltern, die dem assimilierten jüdischen Bürgertum Frankreichs angehören, lassen Simone und ihrem älteren Bruder André viel Freiheit und fördern sie intellektuell, wo es nur geht. Dennoch empfindet Simone sich schon früh als unzulänglich. Um diesen Makel auszugleichen, strebt sie ihr Leben lang danach, ihre volle Aufmerksamkeit auf das Erreichen der Wahrheit gerichtet zu halten.
Sie wendet sich der Philosophie zu. Dabei geht es ihr nicht um abstrakte Systeme – vielmehr sind Denken und Handeln für Simone Weil untrennbar miteinander verbunden. In beiden Gebieten fordert sie von sich selbst Höchstleistungen: Die Welt will sie mit dem Verstand bis in die Tiefe durchdringen – und was sie einmal erkannt hat, soll konsequent in ihrem Leben Ausdruck finden. So setzt sie sich bereits als junge Studentin für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter ein und schuftet selbst eine Zeitlang in einer Fabrik. Allerdings scheitert sie mit ihren Idealen immer wieder an der Realität. Ihre Kompromisslosigkeit führt zu mehreren Versetzungen im Schuldienst. Der Arbeit in der Fabrik ist sie körperlich nicht gewachsen; außerdem weigert sie sich, Bedürfnissen nach Nahrung, Schlaf oder Wärme Aufmerksamkeit zu schenken – der Geist müsse den Körper besiegen, meint sie.
Immer mehr verfestigt sich in Weil die Vorstellung, dass der Mensch dazu geboren ist, im Unglück (malheur) zu leben – und dass dieses Unglück stoisch ausgehalten werden muss. Ihr Ideal ist es, sich immer aufs Neue dieser unglücklichen Realität zu stellen. „Nicht im Traum, sondern in der Wahrheit leben“, nennt sie das. Sehnsüchte, Träume, Gefühle – all das hat keinen Platz in dieser schonungslosen Suche nach letzter Klarsichtigkeit und Erkenntnis.
Gott passt zunächst nicht in ihr Weltbild
Zunächst lehnt Simone Weil die Annahme, dass es einen allmächtigen Gott gibt, kategorisch ab. Sie passt nicht in ihr mathematisch-analytisches Denken. Die Frage nach dem Leid in der Welt etwa ließe sich nicht erklären, wenn es einen Gott gäbe, der das Gute für die Menschen wollte, meint sie.
Dann aber kommt die überraschende Wende: Simone Weil findet einen Zugang zu Gott – nicht über den Verstand, sondern über das von ihr eigentlich abgelehnte Gefühl. Sie schildert später mehrere mystische Gotteserfahrungen, etwa 1937 in Assisi: In einer Kirche „zwang mich etwas, das stärker war als ich selbst, mich zum ersten Mal in meinem Leben auf die Knie zu werfen“. In einem Brief an den gelähmten Schriftsteller Joë Bousquet beschreibt sie ein anderes mystisches Erlebnis als „eine persönlichere, gewissere, wirklichere Gegenwart als die eines menschlichen Wesens, unerreichbar sowohl für die Sinnen als auch der Einbildungskraft, der Liebe gleich, die durch das zärtlichste Lächeln eines geliebten Wesens hindurchscheint“.
Wo der Verstand nicht weiterkommt
Plötzlich muss Weil sich mit einer Wahrheit auseinandersetzen, die den Verstand übersteigt. Sie entwickelt dabei eine paradoxe Art zu glauben: Sie bemüht sich, bis zu dem Punkt vorzustoßen, an dem es mit menschlichem Geist nicht mehr weitergeht, und dann „aufmerksam“ auszuhalten. „Leere“ nennt sie diesen Zustand, oder auch „Unglück“ – beides Formen der göttlichen Berührung: „Verharrt man dann an diesem Punkt, ohne zu lieben aufzuhören, so berührt man am Ende etwas, das nicht mehr Unglück ist, das auch nicht Freude, sondern das reine, übersinnliche, Freude und Leid gemeinsame, innerste, wesentlichste Wesen ist und das die Liebe Gottes selbst ist.“ Wer zu Gott gehören will, muss ganz davon absehen, „Ich“ zu sein – „décreation“, „Ent-Schöpfung“ nennt Weil diesen Vorgang. Mit dem gleichen Begriff beschreibt sie die Schöpfung der Welt, bei der Gott davon absah, seine göttliche Macht auszuüben.
Blockiert im Verhältnis zum Judentum
Simone Weil entwickelt nur auf sich gestellt ein sehr eigenwilliges Christentum, dem sie Elemente der klassischen griechischen Philosophie, der Gnosis und der fernöstlichen Religionen beimischt. Bei aller gedanklicher Freiheit ist sie an einer Stelle jedoch komplett blockiert: in ihrem Verhältnis zum Judentum. Sie lehnt es vehement ab, sich selbst als Jüdin zu sehen oder einen Zugang zu diesen Wurzeln zu suchen. Stattdessen betrachtet sie das Judentum mit offensichtlicher Abscheu. Der Gott des Alten Testaments ist für sie ein menschengemachter. Rache und Willkür, von denen die Bibel erzählt, ist für sie nicht zusammenzudenken mit dem Gott der Liebe und der „Leere“. Mit keinem Wort findet sich bei ihr, die sonst für alle Leidenden ein großes Herz hat, Mitleid für die von Hitler verfolgten Juden.
Auffällig ist, dass eine „Rechtfertigung“ aus Gnade oder Glauben für Simone Weil kein Thema ist. Das, was sie unter Gottesliebe oder auch Erlösung versteht, versucht sie mit in ihrer eigenen geistigen Leistung, ihrer absoluten „Aufmerksamkeit“ auf das Göttliche zu erreichen. Eine geistliche Gemeinschaft mit anderen Gläubigen zieht sie nicht in Betracht; die Institution der katholischen Kirche lehnt sie ab, weil sie sich keinerlei dogmatischen Vorschriften unterwerfen will. Aus diesem Grund verweigert sie auch die Taufe.
1943 stirbt Simone Weil in England an den Folgen ihrer eigenen jahrelangen körperlichen Vernachlässigung. Ihre Suche nach dem Absoluten endet tragisch: Sie hat keinen Platz in der Wirklichkeit gefunden, der ihren Ansprüchen standgehalten hätte.