Gäbe es kein Glas, es müsste erfunden werden. Seit vier Jahrtausenden begleitet das spröde durchsichtige Material die Menschen nicht nur durch den Alltag. Die Vereinten Nationen haben 2022 zum „Internationalen Jahr des Glases“ ausgerufen.
Wer hat‘s erfunden? Die Ägypter könnten es gewesen sein oder Weise in Mesopotamien. Der älteste Hinweis auf Glas ist auf einer Tontafel aus der Regierungszeit des assyrischen Königs Assurbanipal im siebten Jahrhundert vor Christus erhalten. In Keilschrift notierte ein Schreiber: „Nimm 60 Teile Sand, 180 Teile Asche aus Meeresalgen und fünf Teile Kreide – und du erhältst Glas.“
Im Prinzip gilt das bis heute, erklärt Lothar Wondraczek. Er ist Professor für Glaschemie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und deutscher Vertreter im internationalen Lenkungskreis für das UN-Jahr des Glases, das am 10. Februar eröffnet wird. Die wichtigsten Ingredienzien zur Glasherstellung seien auch nach vier Jahrtausenden: „Quarzsand, Soda als Flussmittel, das niedrigere Schmelztemperaturen erlaubt, und gebrannter Kalk für die Festigkeit.“ Auch die Art der Herstellung blieb im Grunde gleich. Wird es auf 1500 Grad erhitzt, verflüssigt sich das Stoffgemisch, wie der Experte erklärt. Wenn es erkaltet, entsteht daraus das transparente Material.
Glas gibt durch Klarheit Einblicke frei
Ein schneller Temperaturabfall ist entscheidend. Während der Quarzsand aus Kristallen besteht, hat Glas eine sogenannte amorphe Struktur. „Die Atome schaffen es nicht, sich zu regelmäßigen Strukturen zu finden“, erläutert Wondraczek. Am Ende verhält sich Glas wie eine extrem zähe Flüssigkeit.
Das sorgt für Eigenschaften, die Glas unverwechselbar machen. Die Faszination des Werkstoffes fasste der Benediktiner-Abt und Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus (780-856) in die schönen Worte: „Glas heißt es, weil es durch die Klarheit Einblicke freigibt“, es ist „gleichsam verschlossen und doch offenbar“.
Glas ist aus dem Alltag nicht wegzudenken und in vielen Dingen unersetzbar. Fenster bringen Tageslicht in jeden Raum, es dient der Aufbewahrung, wird in Autos verbaut und machte optische Errungenschaften wie Brille, Mikroskop oder Teleskop erst möglich.
Dazu verschönt Glaskunst die Welt. Kein anderer Werkstoff kann mithalten, wenn es um die hohe Leuchtkraft der Farben und die starken Kontraste zwischen Hell und Dunkel geht, die auf Glas möglich sind. Licht, das durch Fenster aus buntem Glas fällt, taucht einen Raum in eine besondere Atmosphäre: mystisch, heilig, prächtig. Kein Wunder, dass gerade Kirchenarchitekten diese Wirkung zu schätzen wussten und reichlich einsetzten. Gleichzeitig wurden die großen, gut erleuchteten Fensterflächen der Kirchen wie eine Bilderbibel eingesetzt; ganze Geschichten fanden darauf ihren Platz.
Eine Blütezeit hatte die Kirchenfenster-Kunst in der Epoche der Gotik. Sie prägt bis heute den Eindruck der mächtigen Kathedralen aus dem 12. bis 16. Jahrhundert. Spätere Zeiten zogen farblose Fenster vor, um mehr Licht in die Kirchen zu lasssen, bis es im 19. Jahrhundert zu einer Wiederentdeckung der Glasmalerei kam. Auch in jüngster Zeit gestalten bekannte Künstler Glasfenster, wie Gerhard Richter, der Entwürfe für den Kölner Dom und das saarländische Kloster Tholey schuf. In der Dortmunder St. Reinoldi-Kirche finden sich Fenster des Glaskünstlers Hans Gottfried von Stockhausen aus den Jahren 1967/68, die aus 100 000 farbigen Einzelscheiben bestehen. In der Auferstehungskirche in Bad Oeynhausen gestaltete von Stockhausen eine ganze Wand als Glaskunstwerk.
Glas ist, ohne Übertreibung, überall. Dennoch handelt es sich aus Sicht Wondraczeks um eines der am meisten unterschätzten Materialien überhaupt.
Seine Liste der eher weniger bekannten Einsatzgebiete ist lang. Sie beginnt beim Einsatz in der Computertechnik und der Internettechnologie. „Ohne Glas keine Chips oder – als optische Fasern – kein World Wide Web“, zählt er auf. Dazu kommen bioaktive Gläser, die langsam abgebaut werden und deren Inhaltsstoffe den Aufbau neuen Gewebes, etwa Knochen, unterstützen. Es gibt faltbare Glasdisplays, superkratzfeste Varianten für Mobiltelefone und noch viel, viel mehr.
Dabei glich auch die Glasforschung über lange Zeit ein Stück weit der Suche nach Erkenntnissen in mittelalterlichen Laboren. Die Alchimisten hatten zum Beispiel entdeckt, dass in Königswasser – einem starken Säuregemisch – aufgelöstes Gold für eine intensiv rubinrote Farbe sorgt, wenn man es der Glasschmelze beifügt. Wie ihre Vorgänger versuchen auch die Wissenschaftler der Neuzeit, durch die Zugabe von mehr oder weniger exotischen Stoffen die Eigenschaften des Glases zu verändern.
Dieses Herangehen koste nicht nur viel Zeit, Geld und Energie, die Ergebnisse seien auch nur schwer vorherzusagen, sagt Wondraczek. Doch in den vergangenen fünf, zehn Jahren begann sich das zu ändern: „Mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) gelingt es, Experimente vorhersehbarer zu machen“, sagt der Wissenschaftler.
Wohin führt die Glasforschung? Seriöse Prognosen sind schwer abzugeben. So konnte sich lange kein Wissenschaftler vorstellen, dass Glas sehr effizient Licht leitet. Die Glasfaser-Technologie spricht inzwischen eine andere Sprache – und transkontinentale Unterseekabel sorgen sicher für einen Informationsaustausch etwa zwischen Alter und Neuer Welt.