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Unnennbarer Verlust

Für ihren Roman über das Leben nach Fukushima wurde Nina Jäckle ausgezeichnet

Früher zeichnete der Mann gerne Landschaften, Wolken, Wellen. Jetzt, nach der Tsunami-Kata­strophe in Japan am 11. März 2011, zeichnet er nur noch Menschen, die keine Menschen mehr sind: Tote, die so entstellt sind, dass man sie nicht erkennen kann. In dem Roman „Der lange Atem“ der Autorin Nina Jäckle wird beschrieben, wie er ihnen mit seinem Stift ihre Gesichter zurückgibt, damit ihre Angehörigen sie identifizieren können – eine Vorgehensweise, die in Japan tatsächlich so angewandt wurde. Die Autorin wurde für den Roman mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet.

Das Zeichnen der Tsunami-Opfer ist zu seiner Lebensaufgabe geworden – ein Dienst gleichermaßen an den Toten wie an den Überlebenden, zu denen er selbst zählt: Durch einen Zufall hat er mit seiner Frau den Tag des Tsunami in der Stadt verbracht statt in seinem Heimatort an der Küste. Aber die Riesenwelle hat den beiden nicht nur das Haus und ihre Hochzeitsfotos genommen. Die vielen Verluste und das tiefliegende Gefühl von Verunsicherung lassen den Mann verstummen und führen schließlich zur Entfremdung des Paares.
Die deutsche Autorin Nina Jäckle hat einen vorsichtigen Roman in einer eindringlichen Sprache geschrieben. Er hat das Weiterleben nach einer unbegreiflichen Katastrophe zum Thema – ein Ereignis, das den Einzelnen ebenso betrifft wie eine gesamte Gesellschaft. Jäckle hat dafür einen überschaubaren Rahmen gewählt: Auf den nur 170 Seiten treten vor allem drei Personen auf: der namenlose Erzähler, seine Frau und eine junge Frau, die ihren Bruder sucht. Immer wieder eingestreut sind kurze Berichte anderer Überlebender, die sich neu zurechtfinden müssen in der Welt „danach“ und lernen, mit den Erinnerungen umzugehen.
Einfühlsam nähert sich die Autorin den Menschen und ihrem Gefühl des überwältigenden Verlusts, ohne sich allzu sehr anzubiedern. Dass der Roman nach der Fukushima-Katastrophe spielt, zeigen Bemerkungen zu der unsichtbaren Gefahr, die etwa von Fisch oder kontaminierter Erde ausgeht. Ansonsten hält sich die Geschichte zurück, wenn es um „typisch japanisches“ Lebensgefühl geht. Die Ängste der Überlebenden sind universell verständlich.

Nina Jäckle: Der lange Atem. Verlag Klöpfer & Meyer, 171 Seiten, 19 Euro.