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Und plötzlich ist da dieser Zaun

Pfarrerin Nicole Hoffmann erlebt in unmittelbarer Nähe die Absperrung ganzer Wohnblocks mit. Schuld sei aber nicht allein das Schlacht-Unternehmen: „Wir haben an den Billig-Regalen alle dazu beigetragen, dass dieses System Tönnies so entstehen konnte“.

„Ich bin wirklich erschüttert.“ Nicole Hoffmann spricht in ihre Handy-Kamera, sichtlich angegriffen. Sie hat sich ein Herz gefasst, um in sozialen Netzwerken über die Situation in ihrem Wohnort Verl zu berichten. Hoffmann ist Pfarrerin in Sennestadt, wohnt aber mit ihrem Mann Jens und ihren Kindern im Verler Ortsteil Sürenheide, Kreis Gütersloh.

„Die Häuser, die wegen der Corona-Infektionen abgesperrt wurden, sind nur 300 Meter Luftlinie von uns entfernt“, erzählt sie gegenüber UK. Das ganze Thema um die Fleischfabrik Tönnies und die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter ist also ganz nahe und geht ihr nahe. Zu Beginn dieser Woche waren es schon über 1500 Menschen, die positiv auf Corona getestet wurden.

Das Elend in unmittelbarer Nachbarschaft

Schulen und Kitas waren bereits geschlossen. Mittlerweile gelten auch wieder strenge Kontaktbeschränkungen im gesamten Kreis Gütersloh. Die Stadt Verl hat zudem mehrere Häuser komplett unter Quarantäne gestellt, in denen Werkvertragsarbeiter des Fleischproduzenten leben. Am vergangenen Wochenende schon wurde der Bereich abgeriegelt. Insgesamt 670 Menschen wohnen in den betroffenen Häusern.

Das Kuriose: Auch wer nicht bei Tönnies arbeitet, aber dort lebt, ist unter Quarantäne gestellt. Ausnahmen sind allein für den Weg zur Arbeit oder Arztbesuche erlaubt. „Hier gibt es nicht nur Hochhäuser, sondern auch Einfamilienhäuser. Hier wohnen zum Teil Menschen, die mit mit der Fabrik gar nichts zu tun haben und nicht infiziert sind“, berichtet Nicole Hoffmann.

Gleichzeitig beobachtet die Pfarrerin schon lange, dass die Tönnies-Beschäftigten in ihrer Nachbarschaft unter „wirklich unguten Bedingungen zusammengepfercht leben.“ Nun ist das Areal eingezäunt. „700 Bauzäune wurden hier aufgestellt“, weiß Jens Hoffmann zu berichten, der nicht nur in der dortigen Kirchengemeinde, sondern auch als Polizeipfarrer tätig ist.

Die ganze Situation sei unglaublich belastend, auch für die Einsatzkräfte. Man kann nicht einmal mehr auf der Straße an den Häusern vorbeifahren.

Paradoxerweise stehen seit ein paar Tagen auch Baugerüste auf dem Gelände: „Die oftmals vernachlässigten Hochhäuser werden gerade hellgelb gestrichen“, erzählt Nicole Hoffmann. Verrückte Welt. „Es schockiert mich einfach über alle Maßen“, so die Pfarrerin: „Ich hab da gar keine Worte mehr für. Es ist jetzt einfach dran, das System zu ändern und nicht Menschen einzusperren“, so ihr eindringlicher Appell auf Instagram.

Und dabei spart sie nicht mit selbstkritischen Tönen: „Wir haben fast alle dazu beigetragen, dass dieses System Fleischwirtschaft so lange bestehen konnte und dass es zu dieser Situation gekommen ist. Was jetzt dran wäre, finde ich, ist Solidarität. Dass wir alle sagen: Wir haben unseren Anteil daran, dass es so weit kommen konnte, und deshalb baden wir es jetzt auch alle miteinander aus. Das wäre solidarisch.“

Was den Lockdown für die gesamte Region angeht, ist die Pfarrerin hin- und hergerissen: „So finden wir vielleicht gemeinsam einen Weg da raus. Für die Menschen, die infiziert sind, aber auch für alle, die sich nicht infizieren wollen. Gleichzeitig sind mir aber auch die schlimmen Folgen für viele Menschen bewusst – finanziell, psychisch oder organisatorisch. Natürlich muss man das in der aktuellen Situation ab­wägen.“

Was, wenn die Betroffenen Deutsche wären?

Dass einige Menschen jetzt „unter diesen Bedingungen eingesperrt werden“, hält sie für unwürdig: „Und das ist alles diesem System Tönnies geschuldet. Und es will mir nicht in den Kopf, dass das nicht auch anders gehen könnte.“
Was die Theologin ebenfalls beschäftigt: „Wenn hier mehrheitlich Deutsche betroffen wären, würde dann genauso verfahren?“ Viele der Werksarbeiter stammen aus Osteuropa. Dass diesen noch eine Mitschuld unterstellt wird, findet sie furchtbar: „Als hätten sie den Virus hier eingeschleppt.“

Tatsächlich hatte sich selbst NRW-Ministerpräsident Armin Laschet in einer ersten Stellungnahme in diese Richtung geäußert. Vor laufender Kamera sprach er davon, dass ja Rumänen und Bulgaren eingereist seien und dass „da der Virus herkommt“. Dafür gab es heftige Kritik, auch von der westfälischen Präses Annette Kurschus.

Bei aller Kritik an der Fleischwirtschaft stellt Nicole Hoffmann auch ihr eigenes Verhalten in Frage: „Um das nur noch einmal ganz klar zu sagen: Ich bin auch eine von vielen, die im Supermarkt dann doch mal eben ins Billigfleisch-Regal gegriffen haben. Wenn es einfach schnell gehen musste, wenn Bio ausverkauft war, wenn ich mir schon ein Essen überlegt hatte und gemerkt habe, es gibt aber nur noch ‚billig‘. Dann war ich manchmal auch nicht so flexibel, mir spontan was Neues auszudenken und habe das gekauft.“

Sie macht deutlich, dass sie bei sich selbst und bei vielen anderen Verbrauchern eine Mitschuld an diesem System sieht. „Das werde ich in Zukunft ändern“, so ihr Statement im Internet: „Ich werde das nicht mehr machen. Dann kann ich auch dafür einstehen und die Folgen mittragen.“

Und so richtet die engagierte Pfarrerin einen dringenden Appell an die Gesellschaft: „Das würde ich mir einfach wünschen: Dass wir jetzt alle zusammen die Konsequenzen daraus ziehen, etwas ändern und gemeinsam versuchen, diese Situation unter Kontrolle zu bringen.“

Immerhin haben sich etliche Nachbarn über Facebook schon zur Initiative „Helfende Hände für Sürenheide“ zusammengefunden. Sie versorgen die Betroffenen, in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz, mit Lebensmitteln und anderen nötigen Gütern. Auch Sonnenschirme und Spielgeräte wurden schon zur Verfügung gestellt.

Eine Kuchenaktion ist ebenfalls geplant. Jede Wohnung auf dem eingezäunten Gelände soll einen Kuchen erhalten. „Das sind schon kleine Schritte in die richtige Richtung“, freut sich Nicole Hoffmann über diese spontane Nachbarschaftshilfe.