Artikel teilen

Über Grenzen hinaus

Über den Predigttext zum 16. Sonntag nach Trinitatis: 2. Timotheus 1, 7-10

Kzenon - Fotolia

Predigttext
Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.
Revidierter Luther-Text

Es gibt Daten, die schreiben sich ein in die Zeit der Welt. Der 11. September 2001 ist so ein Datum. Viele Menschen wissen noch genau, was sie an dem Tag getan haben, als sich die Bilder der brennenden Türme des World Trade Center in das Gedächtnis der Welt einbrannten. Meine älteste Tochter war noch sehr klein damals. Sie spielte auf ihrer Krabbeldecke, während wir Großen erschüttert auf die Bilder aus New York im Fernseher schauten.
In was für einer Welt wird dieses Kind aufwachsen?, habe ich mich in den Tagen und Wochen danach oft gefragt. Denn schnell wurde klar, dass mit den Anschlägen vom 11. September ein neues Zeitalter begonnen hatte. Die New York Times schrieb schon am Tag nach dem Anschlag, dies „sei einer der Momente, in denen die Geschichte sich teilt und wir die Welt als ‚vorher‘ und ‚nachher‘ empfinden“. Der „Krieg gegen den Terror“, den die USA später in Afghanistan und im Irak gewinnen wollten, war eine Folge der Anschläge vom 11. September.
Und heute, 15 Jahre später, sieht es tatsächlich so aus, als hätten sich alle Befürchtungen von damals bewahrheitet. Die politische Situation im Nahen Osten ist schlimmer denn je und die Angst vor Terror noch viel größer geworden, auch in Deutschland. Meine Tochter ist nun schon eine Jugendliche. Und Terroranschläge gehören zu der Welt, wie sie sie kennt, einfach dazu – so traurig es ist.
Noch am Abend des 11. September 2001 sagte der damalige Bundespräsident Johannes Rau: „Hass zerstört die Welt und Hass vernichtet Menschen. Darum geht es überall: Dem Hass zu widerstehen und der Nächstenliebe Raum zu schaffen. Wer Nein zu Gewalt sagt, macht das Leben unserer Kinder erst möglich.“ Das war damals keine besonders populäre Meinung. Die markige Rede Gerhard Schröders etwa von der „uneingeschränkten Solidarität“ mit den USA kam weitaus besser an. Und heute sehen wir, wohin der Weg des Krieges gegen den Terror geführt hat: Zu noch fanatischerem Hass, zu noch mehr Terror und zu entsetzlichem Leiden unschuldiger Menschen.
„Bruder Johannes“ wurde der damalige Bundespräsident manchmal genannt. Darin war immer ein bisschen Spott für jemanden, der sich aus seinem christlichen Glauben heraus so klar gegen Hass und Gewalt positionierte. Ich glaube, dass Johannes Rau einfach jemand war, der sich des Evangeliums nicht geschämt hat. Genau so, wie Paulus es in seinem Brief an die Gemeinde in Rom schon gesagt hat und wie es im Brief an Timotheus noch einmal wiederholt wird.
Gott hat Christen einen anderen Geist gegeben als einen Geist der Furcht, der so schnell Macht über Menschen gewinnen kann. Kraft, Liebe und Besonnenheit sind leider nichts, was in unserer Welt sehr häufig vorkommt. Sie sind ein Geschenk, von Gott. So wird es auch schon im Brief an Timo
theus gesehen.
Und weil Gott uns Menschen gut kennt, bekommen wir alles zusammen geschenkt. Denn Kraft ohne Liebe und Besonnenheit wird schnell rücksichtslos. Liebe ohne Kraft und Besonnenheit bleibt wirkungslos. Und wer immer nur besonnen ist ohne Kraft und ohne Liebe, bleibt leicht in der Rolle des bloßen Beobachters.
Tief im Herzen keine Angst zu haben, in einer Zeit der Welt, in der alle nur noch von Terrorangst reden, das ist eine christliche Lebenshaltung. An unserer Kraft, unserer Liebe und unserer Besonnenheit soll man uns Christen erkennen, an unserem Lebensmut und an unserer unvergänglichen Hoffnung. „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“
Lebensmut und Hoffnung drücken sich auf unterschiedliche Weise aus. Ich versuche, die Angst nicht gewinnen zu lassen in meinem Herzen. Und ich habe noch mehr Kinder bekommen nach dem 11. September 2001. Für eines von ihnen ist dieser Spruch der Taufspruch geworden.