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Tor zum jüdischen Leben

Eine interaktive Landkarte zeigt historische Synagogen in Europa. Das britisch-israelische Projekt verzeichnet derzeit bereits weit über 3000 Synagogen. Besucher der Internetseite können melden, wenn sie eine entdeckt haben, die dort noch fehlt

Günter Seggebäing, Coesfeld

Schon der erste Klick schockiert: Ganz Europa ein einziges Meer blutroter Markierungen. Verdichtet noch einmal über Westdeutschland und Böhmen, wo die Rücken der Pfeile kaum mehr nebeneinander zu unterscheiden sind. Die beklemmende Zahl dahinter: Mehr als 1000 Synagogen wurden allein in Deutschland in der sogenannten Pogromnacht des 9. November 1938 zerstört.
Wo in Europa stehen oder standen die Tausenden Synagogen von einst? In welchem Bauzustand sind sie heute und wofür werden sie genutzt? Darüber gibt eine neue interaktive Landkarte Auskunft. Hinter der Datenbank zum Schutz des jüdisches Erbes in Europa stehen die britische „Stiftung für jüdisches Erbe“ und das „Zentrum für jüdische Kunst“ der Hebräischen Universität Jerusalem.
Synagogen seien ein „Tor zum jüdischen Leben“, das sinnbildlichste Zeichen der mehr als 2500 Jahre jüdischer Präsenz in Europa und zugleich ein „einzigartiger Beitrag zum europäischen Kulturerbe“, heißt es auf der Website des Projekts. Gegenwärtig sind dort 3320 Synagogen in ganz Europa verzeichnet, 858 darunter in Deutschland.
Der Besucher der Seite in englischer Sprache (http://historicsynagogueseurope.org/synagogue-map) kann die Einträge nach Ort, Architekt oder Gemeinschaft durchsuchen, sich die Synagogen auf einer interaktiven Karte anzeigen lassen oder mittels Suchmaske nach Einträgen etwa zu Bauzustand, Material oder gegenwärtiger Nutzung suchen. Ein Formular ermöglicht, die Aufnahme weiterer jüdischer Gotteshäuser zu beantragen.
Erfasst sind nach Angaben der Stiftung alle Synagogen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sowie Nachkriegssynagogen in den 47 Mitgliedstaaten des Europarates sowie Weißrussland. Das Inventar umfasst Informationen zu Bauzeit und -material, Architekten sowie welcher jüdischen Strömung das Gotteshaus angehörte. Weniger als ein Viertel (759) werden demnach heute noch als Synagogen genutzt. Rund 120 dienen als Kirchen. So war bis vor wenigen Jahren in der Synagoge im westfälischen Coesfeld eine freie Gemeinde untergebracht. Heute ist die Synagoge Veranstaltungsstätte und Ort des Gedenkens an die Verfolgung der jüdischen Mitbürger. Zehn Synagogen sind heute eine Moschee. Von Polizeistation, Bäckerei über Kulturzentrum oder Restaurant bis hin zu ungenutzt reicht das Spektrum der verbliebenen Synagogen von einst.
Ziel des nach Angaben der Initiatoren ersten europaweiten Projekts dieser Art ist auch, die noch erhaltenen Bauten zu schützen, sagte Stiftungsgeneraldirektor Michael Mail der jüdischen Nachrichtenagentur JTA. Die Bewertung der historischen, architektonischen und künstlerischen Bedeutung und des Zustands solle der Bausubstanz helfen. Von lokal bis international wichtig, von gut erhalten bis nicht mehr zu retten geht die Skala. Rund 160 Synagogen seien gegenwärtig von unwiederbringlicher Zerstörung bedroht. „Wir verlieren unsere Geschichte“, warnt Mail.
Das Projekt lässt an ein ähnlich gelagertes aus Deutschland denken, das die Technische Universität Darmstadt in den 90er Jahren mit großer Beachtung betrieb. Dort wurden seit 1995 Synagogen, die 1938 von den Nazis zerstört worden waren, am Computer rekonstruiert. Eine begleitende große Ausstellung im Jahr 2000, die zerstörte Synagogen aus 15 deutschen Städten virtuell sichtbar machte, brachte 70 000 Besucher in die Bonner Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik.
Nach ihrem Abschluss wurde die Bonner Ausstellung überarbeitet und ging für einige Zeit nach Tel Aviv, unter anderem mit Unterstützung der Kulturstiftung der Deutschen Bank. Intensiv bemühten sich die Macher, das Ensemble fest in Deutschland zu etablieren. Mehrere Museen, Städte und Stiftungen zeigten Interesse – doch am Ende fehlte es am Geld. Auch große Unternehmen und Ministerien lehnten ab. 2010 wanderte das Darmstädter Projekt schließlich aus: ins Holocaust Memorial Center in Farmington Hills bei Detroit. Von dort tourte sie über mehrere Jahre durch verschiedene US-Museen.
Das neue, britisch-israelische Projekt ist rein virtuell. Und doch weiß es zu beeindrucken. Die schiere Fülle allein zeigt den immensen Kulturverlust, den Europa erlitten hat. Von dem noch ungleich größeren des Judentums selbst ganz zu schweigen.