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Tief verwurzelt

Über den Predigttext zum Palmsonntag: Jesaja 50, 4-9

Predigttext
4 Gott, der Herr, gab mir die Zunge von Schülern, damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich höre, wie Schüler hören. 5 Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück. 6 Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und meine Wange denen, die mir den Bart ausrissen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel. 7 Und Gott, der Herr, wird mir helfen; darum werde ich nicht in Schande enden. Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel; ich weiß, dass ich nicht in Schande gerate. 8 Er, der mich freispricht, ist nahe. Wer will mit mir streiten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer ist mein Gegner im Rechtsstreit? Er trete zu mir heran. 9 Siehe, Gott, der Herr, wird mir helfen. Wer kann mich für schuldig erklären? Siehe, sie alle zerfallen wie ein Gewand, das die Motten zerfressen.
Einheitsübersetzung

Mag ich mich so, wie ich bin? Oder seriöser: Kann ich mich annehmen mit meinen Möglichkeiten und meinen Grenzen? Diese Frage kommt mir sofort, wenn ich die Sätze des Jesaja lese. Ich lese von einem, der genau seine Aufgabe kennt. Ich lese von einem, der weiß, was er tut. Ich lese von einem, der vor Schwierigkeiten nicht zurückschreckt und einem – nötigen – Streit nicht aus dem Weg geht. Kurz und gut also: einer, der zu dem steht, was er tut; einer, der seine Möglichkeiten und Grenzen kennt. Würde ich so jemanden auf der Straße treffen, er oder sie würde mich sicher beeindrucken.

Und es beeindruckt mich noch mehr bei Jesaja (und würde mich auch im wirklichen Leben noch mehr beeindrucken): dass diese Selbststärke aus dem Vertrauen auf Gott kommt. Dieses Vertrauen ist tief in ihm verwurzelt, und daraus erwächst dann sein Vertrauen in sich selbst, in sein Können und seine Fähigkeiten, aber auch in seine Grenzen.

Kann ich das so, können wir das so? Es ist mir wichtig, immer wieder Schichten bei der Polizei mitzufahren – Tagschichten oder Nachtschichten, Wochenende oder werktags. Ich erlebe Menschen, die das beruflich machen müssen – ihr Gesicht hart zu machen wie einen Kieselstein, sich in Schlägereien hineinzubegeben, angespuckt zu werden. Ich erlebe Menschen, die an ihre Grenzen kommen und sie manchmal auch überschreiten, mit fatalen Folgen. Ich erlebe Menschen, die hart und misstrauisch werden durch jahrelange grenzwertige Erfahrungen und darüber erschrecken, wenn sie bereit sind, darüber zu reden. Ich erlebe Menschen, die vielfältige Fähigkeiten haben (müssen) und doch Schwierigkeiten haben, sich und anderen eigene Grenzen zuzugeben. Durch Begegnungen und Gespräche mit Beamtinnen und Beamten hat sich mein Blick geschärft für mein Bild von mir und mein Bild von anderen. Denn dieses Thema ist ja nicht nur eins für Angehörige der Polizei, sondern für jeden, für jede von uns.

Bei Jesaja gibt es vier Texte, in denen eine Person so oder ähnlich von sich und von ihrem Auftrag spricht wie in unseren Versen, die sogenannten „Gottesknechtslieder“. In der christlichen Tradition sind diese Lieder immer wieder als direkter Hinweis auf die Person und das Leiden Jesu verstanden worden, obwohl die Texte etwa 600 Jahre vor Jesu Geburt entstanden.

Ich glaube nicht, dass diese Sätze etwas mit Jesus zu tun haben, auch wenn manche Parallelen verblüffend sind. Aber die Gedanken in diesen vier Abschnitten beschäftigen und beeindrucken mich immer wieder. Im Kern ist es die Frage, wie ich selbst mit Scheitern umgehe, wenn ich voll hinter dem stehe, was ich tue. Was bedeutet es mir, wenn ich eine Aufgabe oder einen Auftrag habe, zu dem ich voll und ganz „Ja“ sage und doch Ablehnung erlebe und erfolglos bin?

Im 4. Gottesknechtslied (häufig an Karfreitag verlesen) wird geschildert, dass die Person stirbt und anscheinend versagt hat. Erst nach ihrem Tod erkennt ihr Freundeskreis ihre wahre Bedeutung und ihre Größe.

Ich muss ganz ehrlich sagen: Es wäre für mich ziemlich trostlos, mit dem Gefühl auf das Ende des Lebens zuzugehen, dass ich mit meinem Auftrag und meinen Aufgaben gescheitert bin und erst meine Söhne oder andere nach meinem Tod erkennen, was ich geleistet habe. Ich wünsche es mir für mich, für die Beamtinnen und Beamten, für uns, dass wir Erfolge schon zu Lebzeiten ernten. Das brauchen wir Menschen nun einmal. Natürlich werden wir dabei immer wieder eigene Grenzen erfahren. Dann wünsche ich mir, das Vertrauen darauf zu bewahren, dass Gott selbst mir und uns viel zutraut. Damit ich es mehr schaffe, mich so anzunehmen, wie ich bin.