Der Göttinger Theologieprofessor Jan Hermelink hat sich mit Blick auf sexualisierte Gewalt in der Kirche für eine vertiefte Reflexion über geistliche oder religiöse Macht ausgesprochen. „Die Beziehung zum Unbedingten oder eben zur Seele, die läuft immer mit, wo Menschen in der Kirche miteinander zu tun haben. Das lädt alle Beziehungen und auch alle Machtbeziehungen auf eine bestimmte Weise auf. Das macht das Leben in der Kirche besonders, und mitunter auch besonders gefährlich“, sagte Hermelink dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Rande einer Tagung der Akademie Loccum zum Thema „Transparente Macht in der Kirche“.
In der Pastorenausbildung und in Fortbildungen für Kirchenvorsteher werde der verantwortliche Umgang mit geistlicher Macht bereits thematisiert, sagte der Theologe. „Es müsste aber noch klarer werden, inwieweit sexualisierte Gewalt mit religiöser Macht, also mit dem Kern kirchlicher Arbeit zu tun hat.“ Zwar spiele auch in kirchlichen Missbrauchsfällen pädagogische Macht und die Macht dichter persönlicher Beziehungen eine Rolle, wie etwa in Schulen oder Sportvereinen. „Das entlässt uns aber nicht aus der Verantwortung, die besonderen Gefahren und Versuchungen geistlicher Macht in den Blick zu nehmen.“
Hierfür könne die evangelische Kirche aus ihren ureigenen Quellen schöpfen, betonte Hermelink. „Die evangelische Kirche ist gewissermaßen aus Martin Luthers Kritik an der Macht der Priester hervorgegangen.“ Das von Luther geforderte „Priestertum aller Getauften“ bedeute, dass jeder Christ sein Leben, auch sein Leben mit Gott selbstständig gestalten könne und die Macht von Pfarrern oder Religionslehrern entsprechend begrenzt sei. Darum sei es schon Jesus mit seiner Kritik an den religiösen Autoritäten gegangen.
Positiv würdigte Hermelink die Anstrengungen der hannoverschen Landeskirche um Aufarbeitung und Prävention von sexualisierter Gewalt in den letzten zehn Jahren. Trotz Versäumnissen, etwa mit Blick auf die Herausgabe von Akten für die Studie des Forschungsverbunds „ForuM“, zeigten die Verantwortlichen in der Kirchenleitung und im Landeskirchenamt ein hohes Problembewusstsein, auch in rechtlicher Hinsicht. Dies zeige sich etwa an den von der Landeskirche etablierten Aufarbeitungsverfahren und verschiedenen Ansprechstellen. Die Kirche sei „insgesamt auf einem ziemlich guten Weg“.