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Wiener “Tatort” über zerfallende Gesellschaft spiegelt die Realität

Wien wird heimgesucht von aggressiv auftretenden Demonstranten, die “das System” stürzen wollen. Als einer der Aktivisten stirbt, müssen Fellner und Eisner in den eigenen Reihen ermitteln. Hochaktueller, kluger “Tatort”.

Man stelle sich vor, das Erste hätte diesen Stoff vor sechs, sieben Jahren verfilmt: Die Story um marodierende Verschwörungstheoretiker und weitere von der Weltherrschaft träumende Umstürzler im Herzen einer europäischen Metropole wäre wohl als völlig überzeichnet abgelehnt worden.

Eine Pandemie, mehrere kriegerische Auseinandersetzungen und viele “Fake News” später ist die wilde Geschichte aus dem Staatsverweigerer-Milieu plötzlich gar nicht mehr so fern. Die Erkenntnis, wie sehr sich die Welt in wenigen Jahren verändert hat, ist zwar alles andere als neu – im direkten Vergleich jedoch stets aufs Neue erschütternd. Der “Tatort: Wir sind nicht zu fassen!”, den das Erste am Sonntag ausstrahlt, greift viel von dem auf, was vor allem seit den 2020er Jahren so als “Systemkritik” durch digitale und analoge Welten wabert.

Im Wien von Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) gehen Querdenker, Hooligans, Verschwörungstheoretiker, Impfskeptiker und der Reichsbürger-Bubble zuzuordnende Gestalten, aber auch “Regenbogenfahnenschwenker” gemeinsam auf die Straße, um wahlweise gegen den “Überwachungsstaat”, “die da oben”, “das System”, “den Mainstream” oder “die Eliten” zu protestieren. Oder, um es mit Fellners und Eisners Kollegen Schubert zu sagen: “Hauptsache, man ist dagegen! Dann kriegt man Aufmerksamkeit, fühlt sich einzigartig – ist eine Art kollektiver Narzissmus, würde ich sagen. Ich, ich, ich – das Gegenteil von wir”. So weit, so bekannt aus der sogenannten Realität.

Neu hinzu kommt in dieser grusligen Fiktion indes jemand, der die empörten Massen zu dirigieren weiß, dazu eine bei aller Heterogenität zentrale Organisation. Die heißt hier KAPO, “Kampfbereite außerparlamentarische Opposition”, wirft Pflastersteine und Molotowcocktails und treibt die ziemlich erschöpfte Wiener Polizei vor sich her. Als nach einer Protestaktion ein toter Demonstrant auf dem Asphalt liegt, werden Fellner und Eisner hinzugezogen. Hat einer der Kollegen zu hart hingelangt, ist der tote Jakob Volkmann ein Opfer von Polizeigewalt?

Die beiden müssen also in den eigenen Reihen ermitteln, womit sie sich nicht beliebt machen. Und sie recherchieren zu den höchst unterschiedlichen Hintergründen der Verschwörungstheoretiker: Welche Rolle spielt Volkmanns Freundin Katja, die den jungen Mann aus bürgerlichen Verhältnissen in die “Szene” lotste? Was hat es mit der lautstark auftretenden “LGBTQ-Allergikerin” Jessica Plattner auf sich, welche Verbindung gibt es zwischen den Hooligans auf der Straße und der gut situierten Tierärztin, und was plant der reiche Mann im Schatten mit seinem internationalen Netzwerk?

Voll ist dieser “Tatort”, aber nur gelegentlich zu voll. Mit Figuren und mindestens ebenso vielen politischen Überzeugungen, mit Erzählsträngen, Beobachtungen und Einfällen, mit Gezänk und Nervosität – einer Tonart, die in den vergangenen Wochen auch so einige andere “Tatorte” prägte: “Solange du atmest” der Bremer Kolleginnen etwa, oder den Freiburger Fall “Die große Angst”. Es erscheint konsequent, dass sich die aktuelle gesellschaftliche Tonalität auch in wohl der wichtigsten deutschen TV-Krimi-Reihe widerspiegelt.

Gut gefüllt sind diese Wiener Ermittlungen aber auch mit Worten: Sehr textlastig ist “Wir sind nicht zu fassen!”. Die durchweg toll besetzten Protagonisten sprechen lange, klug und nuanciert formulierte Dialoge (viele davon erfreulicherweise mit Wiener Sprachfärbung), die nur hin und wieder ein wenig ins Papierne rutschen. Temporeich, spannend und sorgfältig hat Rupert Henning sein eigenes Drehbuch in Szene gesetzt; auch optisch und atmosphärisch ist dieser hochpolitische Fall ansprechend gemacht.

Am Ende fragen sich Fellner und Eisner, dieses so wunderbar vertraut-grantige Ermittlerpaar, wie man jetzt wieder zusammenkommen könne mit all den Leuten, die da “gegen den Staat spazieren” gehen. “Ned aufgeben. Nicht in einen Topf werfen! Miteinander reden”, lautet ihre zwar wenig originelle, aber deshalb sicher nicht falsche Antwort.