Artikel teilen:

Tagebuch für ein neues Leben

Seit 40 Jahren finden Frauen in Frauenhäusern Schutz. Doch der Weg in ein neues Leben ist oft mühselig. Die diakonischen Frauenhäuser in Herten und Datteln haben mit der Diakonie RWL ein besonderes Tagebuch entwickelt. Mona nutzt es täglich.

Drei Monate hat Mona mit ihren beiden Kindern im Frauenhaus Herten der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen gewohnt. Keine lange Zeit, aber eine, die ihr Leben entscheidend verändert hat. Sie kann wieder lachen, ist unternehmungslustig und selbstbewusst. Jetzt lebt sie mit ihren zehn- und vierjährigen Kindern in einer eigenen Wohnung, kommt aber regelmäßig im Frauenhaus vorbei, um mit den anderen Bewohnerinnen zu kochen, zu reden, bei der Kinderbetreuung zu helfen. Sie ist eine „Patin“ für die Frauen im Haus geworden.

Als die 44-jährige Frau, die als Kind aus dem Libanon nach Deutschland flüchtete, im März 2019 im Frauenhaus ankam, stand sie vor einem Scherbenhaufen. „Mein zweiter Ehemann hatte mich jahrelang isoliert. Ich durfte nicht arbeiten, keinen Kontakt zu meinen erwachsenen Kindern, meinen Eltern und Geschwistern haben“, erzählt Mona. Schritt für Schritt hat sie ihr Leben wieder geordnet. Eine DIN A4-Mappe mit blauen Punkten, Smilies, vielen Fragen, nützlichen Adressen und Tipps hat ihr dabei geholfen. Überschrieben ist es mit „Mein Tagebuch – Ich bestimme mein Leben selbst“.

Die Bausteine des Lebens ordnen

Tag für Tag schreibt Mona nun in dieses Buch. Es besteht aus zehn „Bausteinen“ wie Wohnung, Beruf, Finanzen, Behörden oder Familie. Den Baustein „Wohnung“ hat Mona bearbeitet, beim Baustein „Finanzen“ und „Familie“ sieht es gut aus. Mona hat wieder Kontakt zu ihren Eltern und den drei erwachsenen Kindern aus ihrer ersten Ehe. Doch beim Baustein „Beruf“ hakt es noch. „Ich würde gerne in meinem früheren Beruf als Altenpflegerin arbeiten“, erzählt sie. „Aber die ungeregelten Arbeitszeiten sind für mich als alleinerziehende Mutter schwierig. Außerdem habe ich gesundheitliche Probleme mit der Bandscheibe.“

Etwas Geld verdient sie sich als deutsch-arabische Dolmetscherin in einem interkulturellen Babycafé. Sie kann sich vorstellen, sich auf diesem Gebiet weiterzubilden. Aber auch da gibt es eine Menge Fragen, die sie erst einmal für sich klären muss, bevor sie mit einer Sozialarbeiterin des Frauenhaues darüber spricht und weitere Schritte geht. „Wenn ich enttäuscht bin, weil es nicht so gut läuft, dann blättere ich zurück. Das baut mich auf, weil ich dann sehe, was ich schon alles geschafft habe.“

Das Tagebuch ist vielseitig einsetzbar

So wie Mona geht es vielen der rund 70 Frauen, die im Projekt „Second Stage“ der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen betreut werden. Das landesgeförderte Projekt begleitet ehemalige Frauenhaus-Bewohnerinnen, die zwar schon eine neue Wohnung gefunden haben, aber noch in vielen anderen Bereichen ihres Lebens – von der Jobsuche bis zu Finanzen und Sorgerechtsstreitigkeiten für ihre Kinder – Unterstützung brauchen. Hier entstand die Idee des Tagebuchs.

Karin Hester, Leiterin der „Hilfen für Frauen“ der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen, begann vor einem Jahr, es gemeinsam mit ihren Kolleginnen und den Frauen aus dem Frauenhaus zu entwickeln. „Unsere Beratung hat sich dadurch verändert“, erzählt sie. „Die Frauen kommen vorbereitet in die Gespräche. Sie wissen genauer, was sie wollen und sind selbstbewusster geworden.“

Außerdem tauschen sie sich mit den anderen Bewohnerinnen intensiv darüber aus, welcher Schritt bei der Suche nach einer Wohnung, einem Job, einer Kinderbetreuung oder im Umgang mit den Behörden erfolgreich gewesen ist und unterstützen sich gegenseitig. Ihre Erfahrungen sind in den Informationsteil des Tagebuchs eingeflossen. Hier gibt es konkrete Tipps, was die Frauen für eine eigene Wohnung benötigen, wie sie eine Bewerbung schreiben, welche Ärzte, Vereine, Kitas und Schulen es in der Region gibt.

Erhöhung der Platzzahl um mindestens 50 bis 2022

Gemeinsam mit der Diakonie RWL veröffentlichen die Frauenhäuser Herten und Datteln das Tagebuch nun in neun Sprachen. Gefördert wird das Projekt vom nordrhein-westfälischen Gleichstellungsministerium. „Das Interesse an unserem Tagebuch ist groß, denn es ist leicht verständlich und kann in allen päda­go­gischen Feldern eingesetzt werden“, betont Ulrike Martin. Als Referentin der Diakonie RWL ist sie unter anderem für sieben evangelische Frauenhäuser zuständig. Insgesamt gibt es in NRW 64 landesgeförderte Frauenhäuser. Seit Oktober gehört auch das Frauenhaus Herten dazu.

Bis zum Jahr 2022 will die Landesregierung die vorhandenen 571 Plätze um mindestens 50 erhöhen. „Das ist ein erster Anfang“, sagt Ulrike Martin. Schon lange kämpft die Diakonie RWL um mehr Plätze und eine solide Finanzierung der evangelischen Frauenhäuser. Denn seit Jahren nimmt die Zahl der Frauen zu, die häusliche Gewalt nicht länger hinnehmen wollen, sich Hilfe in Beratungsstellen und Frauenhäusern suchen und Strafanzeige stellen.

Mona hatte Glück. Sie musste nicht auf einen Platz warten, sondern konnte im Frühjahr direkt ins Frauenhaus Herten einziehen. Vorher habe sie zwei Monate lang überlegt, ob sie ihren Ehemann tatsächlich verlassen sollte, erzählt sie. Heute ist sie froh, dass sie diesen Schritt gewagt hat. „Ich war voller Angst“, sagt sie. „Jetzt fühle ich mich stark und frei.“

Dabei drückt sie ihr Tagebuch an sich. Sie hat ihm den Titel „Mein neues Leben“ gegeben. Es ist mittlerweile richtig schwer geworden. Kein Wunder, denn sie führt es auf Deutsch und Arabisch. Doppelt hält einfach besser.