Krisen, Epidemien oder andere Bedrohungen können zu erhöhten Zahlen von Selbsttötungen führen – so die verbreitete Befürchtung. Eine neue Studie widerspricht: Während des ersten Corona-Lockdowns sanken die Zahlen sogar.
Der Corona-Lockdown hatte nach einer neuen Studie offenbar deutliche Auswirkungen auf Suizide in Deutschland. “Die Suizidsterblichkeit während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 war signifikant niedriger als erwartet”, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten wissenschaftlichen Fachartikel unter Beteiligung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention in PLOS ONE.
Untersucht wurde, ob sich die Suizidraten in Deutschland 2020 während des Lockdowns und in Zeiten ohne Lockdown im Zehn-Jahres-Vergleich veränderten. Am 27. Januar 2020 hatte das Coronavirus erstmals offiziell die Bundesrepublik erreicht. Eineinhalb Monate später verhängte die damalige Bundesregierung um Kanzlerin Angela Merkel die ersten Maßnahmen, um das Virus einzudämmen. Der erste Corona-Lockdown wurde am 16. März 2020 beschlossen und trat am 22. März 2020 in Kraft. Er endete mit den ersten Lockerungen nach sieben Wochen am 4. Mai.
Konkret starben laut Studie von März bis Dezember 2020 in der Corona-Zeit 7.041 Personen durch einen Suizid. Das entspricht in etwa dem Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2019, den die Wissenschaftler auf 6.991 beziffern. Bricht man allerdings die Statistik auf konkrete Wochen herunter, so zeigt sich, dass die Suizidraten in den Wochen vor dem ersten Lockdown und in den Wochen zwischen dem ersten und zweiten Lockdown teilweise leicht erhöht waren. Anders war es während des Lockdowns selber: In dieser Zeit nahmen sich 1.196 Menschen in Deutschland das Leben. Statistisch erwartbar gewesen wären 1.283 Suizide.
Die geringeren Suizidzahlen während des ersten Lockdowns decken sich laut Studie mit Befunden aus anderen Ländern. Bei den Gründen für den Rückgang zeigen sich die Wissenschaftler vorsichtig. Denkbar wären die erhöhte soziale Kontrolle durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, der erschwerte Zugang zu verschiedenen Suizidmethoden (etwa Schienensuizide) und beschränkte Möglichkeiten zum Suizid in den eigenen vier Wänden.
Studienautorin Anne Elsner verwies allerdings darauf, dass solche Aussagen sehr spekulativ seien. So gebe es etwa zu wenig Wissen über Suizidversuche in dieser Zeit. Denkbar sei auch, dass der Schock über den einschneidenden Lockdown zunächst dazu geführt habe, Suizide aufzuschieben.
Neue Erkenntnisse verspricht sich die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Deutsche Depressionshilfe von bislang noch nicht komplett vorliegenden Daten über den zweiten Lockdown, der sich in unterschiedlichen Stufen von November 2022 bis Mai 2021 erstreckte. Da die meisten Suizide vor dem Hintergrund einer nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung stattfänden, werde sich zeigen, ob der zweite Lockdown die psychische Situation vieler Menschen verschlimmert habe.
Bereits im Mai 2022 hatten Wissenschaftler der Universitätsmedizin Leipzig sowie des Uniklinikums Ulm und der Universität Wien Suizidtodesfälle der polizeilichen Kriminalstatistiken von elf Millionen Einwohnern in den Bundesländern Sachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ausgewertet. Ihr Ergebnis: Trotz der psychischen Belastung der Bevölkerung in der Pandemie gab es keinen generellen Anstieg der Suizide. Insbesondere eine generelle Erhöhung der Anzahl der Selbsttötungen älterer Menschen, zum Beispiel aus Vereinsamung aufgrund von Kontaktbeschränkungen, ließ sich nicht nachweisen.