Einen Tag nach der Vorstellung der Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche gibt es Streit über die Aussagekraft der Zahlen und Zuarbeit der Landeskirchen. Unterdessen wirbt die Kirchenleitung für Kulturwandel
Die Forscher sind sich einig: Die Zuarbeit der Landeskirchen war mit Blick auf die Studie über Missbrauch in der evangelischen Kirche alles andere als gut. Einige Landeskirchen bestreiten das. Einen Tag nach Vorstellung der Untersuchung bekräftigte der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing seine Kritik. “Ich habe irritiert Meldungen aus einzelnen Kirchen gelesen, sie hätten alle Personalakten in die Hand genommen”, sagte Dreßing am Freitag bei einer Tagung von Fachleuten und Kirchenmitarbeitern in Hannover. “Es mag sein, dass einzelne Landeskirchen alle Personalakten in die Hand genommen haben. Dann aber nur, um zu sehen, ob es darin eine Disziplinarakte gibt.” Anwesende Mitarbeiter einzelner Landeskirchen erhoben daraufhin laut Widerspruch.
Die erste bundesweite Missbrauchsstudie für evangelische Kirche und Diakonie war am Donnerstag in Hannover vorgestellt worden. Neben Dreßing waren zahlreiche weitere Wissenschaftler an der Erstellung beteiligt. Es fanden sich in kirchlichen Akten demnach Hinweise auf 2.225 betroffene Kinder und Jugendliche und 1.259 Beschuldigte in den Jahren 1946 bis 2020. Weil 19 von 20 Landeskirchen nach Angaben der Forscher nur die Disziplinar- aber nicht die Personalakten untersuchten und Akten teilweise unvollständig waren, gehen sie von weit höheren tatsächlichen Zahlen aus. Mit Hilfe einer Hochrechnung kommen sie auf fast 10.000 Betroffene und etwa 3.500 Beschuldigte.
Mehrere Kirchenvertreter zeigten sich irritiert über den Vorwurf der Wissenschaftler, nicht alle Informationen zur Verfügung gestellt zu haben. Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), Thorsten Latzel, sagte der “Kölnischen Rundschau”: “Wir haben bei uns im Rheinland alle Personal- und Disziplinarakten auf landeskirchlicher Ebene durchgesehen und die Informationen dazu auch weitergegeben.”
Zugleich warnte der Münchner Entwicklungspsychologie Heinz Kindler davor, die Aussagekraft der ermittelten Fallzahlen zu überschätzen. Sie spiegelten nicht die tatsächliche Zahl der Missbrauchsfälle wieder, sagte Kindler bei einer Fachtagung am Freitag in Hannover. Diese liege viel höher. Eine rund fünf Jahre alte Untersuchung des Kinder- und Jugendpsychiaters Jörg Fegert gehe von 144.000 Betroffenen im Raum der Kirchen in Deutschland aus. Fegert hatte zudem erklärt, dass er von ähnlichen Zahlen in katholischer und evangelischer Kirche ausgehe.
Kindler plädierte dafür, in zwei oder drei weiteren Landeskirchen systematische Personalaktenanalysen vorzunehmen, um diese geschätzten Zahlen zu validieren. Eine Analyse in allen Landeskirchen sei hingegen nicht nötig, so Kindler auf Nachfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Unterdessen warb die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst für einen Kulturwandel in der evangelischen Kirche. “Ich glaube nicht, dass schon in jedem Winkel unserer Kirche das Bewusstsein dafür angekommen ist, dass Missbrauch ein zentrales Problem ist”, so Wüst, die auch Missbrauchsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist. Nach Ansicht von Wüst müssen in den Landeskirchen nun einheitliche Standards zum Umgang mit Missbrauch geschaffen werden. Dazu müsse nicht der binnenkirchliche Föderalismus abgeschafft werden. “Aber es darf keine Rolle spielen, ob ein Betroffener aus Bayern oder aus der Nordkirche stammt.”
Der Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, warf der evangelischen Kirche vor, nichts von der katholischen Kirche gelernt zu haben. In Sachen Missbrauch agierten ihre Vertreter ebenfalls nach der Salamitaktik: “Ich gebe das zu, was mir bereits nachgewiesen wird”, erklärte Norpoth im Interview mit dem katholischen Internetportal “domradio.de” (Freitag).