In Breslau herrschten einst abwechselnd polnische, böhmische und preußische Könige und Herzöge. Alle haben in der niederschlesischen Metropole ihre Spuren hinterlassen. Breslau, das heute Wroclaw heißt, hat von diesem Aufeinandertreffen profitiert – so sehen es zumindest viele Einwohner. Das Zusammenspiel verschiedener Kulturen in ihrer mehr als 1000-jährigen Geschichte ist eine der Botschaften, die die viertgrößte Stadt Polens vermitteln will, die in diesem Jahr zusammen mit dem nordspanischen San Sebastian den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ trägt.
Seit 1945 gehört Breslau wieder zu Polen. Nahezu alle deutschen Bewohner flohen am Ende des Zweiten Weltkriegs aus der fast vollständig zerstörten Stadt. Vor allem Polen aus dem Osten, die aus den Gebieten vertrieben wurden, die von da an zur Sowjetunion gehörten, bauten die Stadt wieder auf. Heute leben rund 630 000 Menschen hier, etwa so viele wie vor dem Krieg.
Lange war die deutsche Geschichte der Stadt tabu. Historische deutsche Schriftzüge wurden getilgt. Die Angst war groß, die Deutschen könnten zurückkommen. So betrieb 1965 auch Polens Kardinalprimas Stefan Wyszynski Geschichtsklitterung, als er pathetisch behauptete: „Hier sprechen die Steine polnisch.“ Die deutschen Errungenschaft der Stadt, ihre gesamte deutsche Geschichte, verschwieg er bei der 20-Jahr-Feier der polnischen Kirche in den Oder-Neiße-Gebieten.
Inzwischen begreift die Stadt auch das hinterlassene deutsche und jüdische Erbe als ihr eigenes. Es wird nicht mehr verschwiegen, sondern an die Leistungen aus jener Zeit erinnert. „Indem wir die Geschichte und die Multikulturalität respektiert haben, haben wir ein offenes Wroclaw erschaffen, mit einer außergewöhnlich interessanten Kultur, mit Ambitionen, ein modernes und interessantes Wroclaw“, sagt Oberbürgermeister Rafal Dutkiewicz.
Nicht nur im Bereich der Kultur – auch in Sachen Religion bemühen sich die Bewohner um Toleranz. Ein Beispiel dafür ist das so genannte Viertel des gegenseitigen Respekts. In nur 300 Metern Entfernung befinden sich hier vier verschiedene Gotteshäuser. Neben den Kirchen der lutherischen, der katholischen und der orthodoxen Gemeinde wurde 2010 auch die jüdische „Synagoge zum Weißen Storch“ wiedereröffnet. Vor allem sie ist ein Zeichen des Miteinanders.
Erst 1996 erhielt die jüdische Gemeinde in Breslau, die heute noch etwa 300 Mitglieder zählt, die Ruine der Synagoge zurück. Nationalsozialisten und Kommunisten hatten sie enteignet und dem Verfall überlassen. „Damals war die Synagoge in einem sehr schlechten Zustand“, berichtet Bente Kahan. Sie ist Norwegerin, Jüdin, Künstlerin und zudem Direktorin und Gründerin der 2006 ins Leben gerufenen Bente-Kahan-Stiftung. Ihr Ziel: die Synagoge wieder zu altem Leben zu erwecken und ein Zentrum jüdischer Kultur und Bildung zu schaffen. Mit finanzieller Unterstützung der EU, der Stadt und der jüdischen Gemeinden gelang das 2,5 Millionen Euro teure Projekt.
Rund um die Synagoge wächst das Toleranzviertel weiter. Restaurants und Studentenkneipen haben sich angesiedelt. Breslau ist auf einem guten Weg, ein attraktives Ziel für europäische Touristen zu sein – erst recht als Kulturhauptstadt 2016.