„Jahre des Unheils, in denen Unrecht Recht, Lüge Wahrheit, Knechtschaft Freiheit genannt wurde“ – so lautete die vernichtende Kritik Adolf Grimmes (1889-1963) an dem Missbrauch der Sprache durch die Nationalsozialisten. Auch die deutsche Sprache brauche einen Neuanfang, forderte der Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks vor 75 Jahren in der Frankfurter Paulskirche. „Wir tragen die Verantwortung, als ‘Täter des Wortes’ in einem gemeinsamen Werk unsere Sprache vor weiterem Sinken zu bewahren.“ Mit diesen Worten verkündete Grimme am 28. August 1949, dem 200. Geburtstag Goethes, die Gründung der „Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“. Die Akademie feiert das 75-Jahr-Jubiläum auf ihrer Herbsttagung an diesem Freitagabend in Darmstadt.
„Als Grimme die Akademie ausrief, gab es keinen Pfennig, kein Dach überm Kopf, keine Satzung, nur die 49 Gründungsmitglieder“, sagt der heutige Akademie-Präsident, der Berliner Schriftsteller Ingo Schulze. „Es war eine Gründung von unten.“ Unter den versammelten Autorinnen und Autoren waren nur vier Frauen und zwei Emigranten. Etliche Gründungsmitglieder hätten in der Nazizeit versucht, sich zurückzuziehen, einige hätten Widerstand geleistet, viele aber hätten sich in das NS-System eingefügt. Zu den ersten Mitgliedern gehörten Erich Kästner, Luise Rinser, Otto Rombach und Marie Luise Kaschnitz. Bekannte Rückkehrer aus dem Exil wie Bertolt Brecht, Anna Seghers oder Arnold Zweig waren nicht dabei, auch Alfred Döblin engagierte sich lieber in der Mainzer Akademie.
Die mit dem Sieg über Nazi-Deutschland erkämpfte Freiheit in Gesellschaft und Sprache will die Akademie bis heute fördern. „Wir müssen Räume schaffen, in denen man angstfrei und differenziert debattieren kann“, sagt Schulze. Auf Tagungen, den Frankfurter Debatten über die Sprache, den Leipziger Debatten über Literatur oder mit den Berichten zur Lage der deutschen Sprache, die zusammen mit der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften herausgegeben werden, lässt die Akademie die Öffentlichkeit daran teilhaben. Diese wendet sich auch umgekehrt an die Akademie.
„Wir erhalten laufend Briefe und Mails von Bürgern“, berichtet der Vorsitzende der Sprachkommission, der Kasseler Sprachwissenschaftler Andreas Gardt. Die meisten Zuschriften seien emotional aufgeladen und kritisierten aktuelle Veränderungen der Sprache. Etliche hätten sich in den vergangenen Jahren über Anglizismen aufgeregt, gegenwärtig empörten sich viele über das Gendern. „Wir beantworten die Schreiben einzeln und versuchen, eine fachlich begründete Antwort zu geben“, sagt Gardt. Beim Gendern verweise die Akademie auf die Empfehlung des Rates für deutsche Rechtschreibung.
Der Kommissionsvorsitzende hebt hervor, dass die Akademie in Streitfragen keine einheitliche Position hat. Sie lege keine Regeln fest, die Kulturhoheit liege bei den Bundesländern. „99 Prozent des Sprachwandels geht von den Leuten aus“, sagt Gardt. So sei aus der „Brause“ die „Dusche“ geworden, „geschienen“ habe sich zum Teil zu „gescheint“ gewandelt. Ein verordneter Sprachwandel sei sehr selten, er errege wie im Fall der Rechtschreibreform Ende des vergangenen Jahrhunderts viele Menschen. Auch das Thema Gendern polarisiert. „Sprache hat mit Identität zu tun“, erklärt der Wissenschaftler. „Sprache ist wie eine zweite Haut.“
Die Akademie fördert Literatur, indem sie Werke herausgibt, auch gemeinsam mit der Wüstenrot Stiftung. Sie organisiert mit Partnern Programme der Literaturvermittlung wie die Lyrik-Empfehlungen – in diesem Jahr wurden erstmals auch Lyrikbände für Kinder empfohlen. Autoren und Übersetzern verschafft die Akademie Öffentlichkeit mit der jährlichen Verleihung von fünf Preisen, etwa dem Georg-Büchner-Preis. Er gilt als renommiertester Literaturpreis im deutschsprachigen Raum. Dieses Jahr geht er an den in Südtirol geborenen Schriftsteller Oswald Egger.
Die derzeit knapp 200 Mitglieder – Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Fachleute aus der Wissenschaft – haben sich nicht selbst beworben. Kandidatinnen und Kandidaten müssen jeweils von drei Mitgliedern vorgeschlagen werden.
Die Akademie verwaltet jährlich ein Budget von rund 1,4 Millionen Euro. Der Bund, die Ländergemeinschaft, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt finanzieren im Wesentlichen die Personal- und Sachkosten. Die Mittel für das inhaltliche Programm sind nach den Worten von Schulze unzureichend und müssen zu einem erheblichen Teil eingeworben oder durch Kooperationspartner gesichert werden.
Zum Festakt kündigt Präsident Schulze an: „Wir präsentieren uns selbstkritisch, aber auch im Bewusstsein einer reichen und anregenden Geschichte und Gegenwart.“