Außer Spesen nichts gewesen? Der von der Ampel eingerichtete Bürgerrat Ernährung musste viel Kritik einstecken. Dennoch wollen SPD und Grüne auch bei anderen Themen künftig auf das Projekt setzen. Kann das klappen?
Politikverdrossenheit ist ein zunehmendes Problem in Deutschland. Erst Mitte Januar ergab der Deutschland-Monitor 2024, dass knapp 40 Prozent der Bundesbürger mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland unzufrieden sind. Klar ist: Kann dem nicht gegengesteuert werden, erwächst daraus eine ernsthafte Gefahr für den Erhalt der demokratischen Grundordnung im Land.
Diesem Problem müssen sich im Hinblick auf die Bundestagswahl auch die Parteien stellen, wenn sie nun im Wahlkampf um die Gunst der Bürger buhlen. Dabei setzen SPD und Grüne offenbar auf den Ansatz der Bürgerräte, also Gremien von “Normalos”, die nicht nur in den politischen Alltag am Bundestag, sondern auch in parlamentarische Beratungen eingebunden werden sollen.
Die SPD kündigt in ihrem Wahlprogramm an, “Bürgerräte als festen Bestandteil unserer Demokratie etablieren” zu wollen. Empfehlungen der Bürgerräte sollen in die parlamentarischen Beratungen einfließen. Dabei haben die Sozialdemokraten auch schon ein konkretes Thema für den nächsten Bürgerrat im Auge: die Corona-Pandemie. Neben deren Aufarbeitung gehe es dabei vor allem darum, auf eine künftige Pandemie besser vorbereitet zu sein.
Weniger greifbar formulieren es die Grünen, die Bürgerräte als eine gute Möglichkeit sehen, ohne deren Einberufung schon fest zu versprechen. Dabei ist die Weiterführung des Bürgerratskonzepts durch die beiden Ampelparteien nur logisch. Schließlich haben sie gemeinsam mit dem damaligen Koalitionspartner FDP – die es in ihrem Wahlprogramm nicht mehr erwähnt – das erste dieser Gremien auf Bundesebene eingerichtet: Im Frühjahr 2023 nahm der Bürgerrat “Ernährung im Wandel” seine Arbeit auf. Zuvor waren durch ein mehrstufiges Zufallsverfahren 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ermittelt worden, um an dem Projekt mitzuwirken.
Das Thema schien sehr geschickt gewählt. Schließlich betrifft Ernährung ausnahmslos jeden Menschen, wobei die individuelle Gestaltung des Speiseplans sich nach Wohnregion, Einkommen und sozialem Umfeld stark unterscheiden kann. Davon versprachen sich die Initiatoren ein breites Meinungsbild, welche Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung wünschen oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten.
Im Februar 2024 legte der Bürgerrat dann nach drei Sitzungen in Präsenz sowie sechs im Virtuellen seine Empfehlungen vor. Davon machte besonders eine die Runde: So sprach sich das Gremium für ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder in Schulen und Kitas aus. Bund und Länder sollten dies gemeinsam finanzieren.
Hinzu kamen noch weitere Empfehlungen, für staatliche Label auf gesunde Lebensmittel im Handel, eine Verpflichtung der Supermärkte zur Zusammenarbeit mit den Tafeln sowie mehr Ernährungsbildung schon an den Schulen – im Grunde alles Vorschläge, die den Plänen des Grün-geführten Bundesernährungsministeriums entgegenkamen.
Entsprechend groß war die Überraschung – oder besser Enttäuschung -, als die im Januar 2024 veröffentlichte Ernährungsstrategie der Bundesregierung in einigen Punkten deutlich hinter den Bürgerrats-Empfehlungen zurückblieb. Anders als im Bürgerpapier fehlten in der Strategie jegliche steuerliche Maßnahmen, mit denen gesunde und nachhaltige Lebensmittel günstiger gemacht werden könnten, bemängelte etwa der Umweltverband WWF. Auch die Krankenkasse AOK bemerkte gute Ansätze, hielt das Konzept im ganzen aber für zu schwammig. Und nicht wenige dürften sich gefragt haben, warum die Veröffentlichung nicht nach hinten verschoben wurde, um möglichst viele Anregungen des hochgelobten Bürgerrates aufnehmen zu können.
Dessen Empfehlungen liegen nun auf dem Tisch; ob sie auch in der Schublade verschwinden, wird sich wohl erst nach dem 23. Februar zeigen. Derzeit scheint sich jedenfalls noch zu bewahrheiten, was manche Skeptiker schon zu Beginn des Bürgerrats fürchteten. “Ohne politischen Willen wird er versanden”, mahnte damals foodwatch-Geschäftsführer Chris Methmann.
Dabei gibt es aus der Sozialforschung durchaus Zustimmung zu dem Konzept. Aus Sicht der Politikwissenschaftlerin Miriam Hartlapp von der Freien Universität Berlin könnten Bürgerräte auch in Deutschland durchaus einen großen Nutzen haben. Wichtig dafür sei, dass sich die Entscheidungsträger auch ernsthaft mit den Empfehlungen des Gremiums auseinandersetzen. “Wenn Abgeordnete Vorschläge nicht übernehmen, sollten sie den Bürgern erklären müssen, warum.”
Gleichzeitig warnte die Forscherin vor den Folgen, wenn ein Bürgerrat nur als “Politiksimulation” und ohne Konsequenzen einberufen werde. Der anvisierte Partizipationsgedanke könnte dann leicht ins Gegenteil verkehrt werden. “Ein Bürgerrat kann Politikverdrossenheit abbauen und eine positive Demokratieerfahrung für Teilnehmer und Beobachter haben. Doch wenn nichts Konkretes folgt, können Bürgerinnen und Bürger hinterher auch umso enttäuschter sein.”
Für SPD und Grüne wird es – bei allem guten Willen – zentral sein, dies bei einer Berufung neuer Bürgerräte zu bedenken. Schwierig könnte es sich auch deshalb gestalten, da zum derzeitigen Zeitpunkt eine Regierungsbeteiligung der Union als fast sicher gilt. Und CDU/CSU wollen ohne eine grundlegende Evaluierung der bisherigen Arbeit keinen neuen Bürgerrat einsetzen. Angesichts der Wirkung des Bundesrats Ernährung könnte das zum Problem werden.