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Soziologe: Nicht mehr antisemitische Vorbehalte, aber präsenter

Antisemitismus tarnt sich laut dem Religionssoziologen Gert Pickel oft als harmlose Meinungsäußerung. Antisemitische Ressentiments hätten nicht wirklich zugenommen, wie Studien zeigten, sie würden nur im öffentlichen Leben präsenter und seien scheinbar sagbarer geworden, sagte er am Mittwoch in Leipzig. Dabei werde vermehrt auf eine Art Umweg-Kommunikation gesetzt, die einem im Notfall ermögliche, es abzustreiten, ein Antisemit oder eine Antisemitin zu sein.

Antisemitische Vorbehalte fänden sich besonders stark im extrem rechten politischen Spektrum bis hin zur Mitte der Gesellschaft sowie in Teilen in muslimischen Communities, so Pickel. Zudem wies er darauf hin, dass antisemitische Ressentiments unter jüngeren Menschen seltener verbreitet seien als unter älteren. Das gelte besonders stark für den “Schuldabwehr-Antisemitismus”, der einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit setzen wolle. Unter Deutschen, die sich dem rechten Spektrum zuerkennen, habe diese Form des Antisemitismus in den vergangenen Jahren bis über 60 Prozent zugenommen. Pickel ist Vize-Sprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und Demokratieforschung und neuer Antisemitismusbeauftragter der Universität Leipzig.

Die hohe Solidarität in Deutschland mit Israel, gerade auch nach dem Terrorangriff der Hamas, erklärt Pickel auch mit der NS-Vergangenheit: “Dies hat nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch über persönliche Besuche von Deutschen in Israel und eine gestiegene Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu besonderen Beziehungen zu Israel geführt.” Trotz aller gewachsenen Offenheit bleibe aber eine tiefe Verankerung antisemitischer Ressentiments, die immer dann aufbreche, wenn nach Sündenböcken für etwas gesucht werde, so Pickel. Er erinnerte in diesem Zusammenhang an ein Zitat des Psychoanalytikers Zvi Rex: “Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.”