Hélène trägt ein kleines Schild in Klarsichtfolie vor ihrem Bauch. „Nicht ‘die’ Ausländer sind die Gefahr, sondern die Unmenschlichkeit! Seid Menschen!“ hat sie von Hand in unterschiedlichen Farben darauf geschrieben, inspiriert von der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. Die 75-jährige Solingerin gehört zu knapp 300 Menschen, die am Samstag auf den Fronhof in der Solinger Innenstadt gekommen sind, um der Opfer des islamistisch motivierten Messerangriffs vor einem Jahr zu gedenken.
„Ich möchte zeigen: Egal, wo man herkommt, man muss für die Menschen sein“, sagt Hélène. Die aus Frankreich stammende Seniorin lebt seit über 50 Jahren in Solingen. In der Großstadt im Bergischen Land halten die Menschen am Fronhof vor der evangelischen Stadtkirche für gut eine Stunde inne. In einer öffentlichen Gedenkfeier wird an die drei Toten und acht durch Messerstiche verletzten Menschen erinnert, die vor einem Jahr Opfer des Angriffs von Issa al H. wurden.
„Das war absolut furchtbar für mich“, sagt Hélène. Mit ihrem Besuch bei der Gedenkveranstaltung wolle sie der Angst trotzen: „Man muss gegen die Angst kämpfen, sonst geben wir auf.“ Ein Stück von der Menge entfernt steht Michael Einhoff, Leiter der Feuerwehrwache 3 der Berufsfeuerwehr Solingen. Er hatte am Tatabend noch etwa anderthalb Stunden vor dem Messerangriff das Stadtfest mit seiner Ehefrau besucht.
Als er dann wieder zuhause war, wurde er über den Alarmierungsmelder über „eine Messerstecherei“ informiert. „Über den Funk habe ich dann mitbekommen, dass es sich um etwas Größeres handeln muss“, berichtet Einhoff. Er fuhr in die Feuerwache 1 in Solingen-Mitte und organisierte von dort die Rettungseinsätze.
Mit seiner Teilnahme an der Gedenkveranstaltung wolle er seine „Solidarität mit den Helfenden“ ausdrücken, erklärt er. Er wolle all jenen Menschen seinen Respekt bekunden, die „mitgeholfen haben, die Tat zu verarbeiten“. Einhoff lebt im benachbarten Hilden. „Die Tat bewegt die Menschen hier nach wie vor“, sagt er.
Der Anschlag habe Solingen getroffen, stellt auch Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) bei der offiziellen Gedenkfeier fest. Doch man lasse sich nicht einschüchtern: „Wir halten zusammen und wir werden weiter das Leben in Vielfalt feiern, gerade weil man es uns nehmen wollte.“ NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sieht den Attentäter mit seiner Absicht gescheitert, zu spalten und Hass zu säen, „denn an diesem Tag haben Menschen auch etwas anderes gezeigt: Mut, Solidarität, Mitgefühl“.
Zwischen den Reden spielen vier Streicher der Bergischen Symphoniker getragene Stücke in Moll. Drei Glockenschläge erinnern an die Getöteten, von der Stadtkirche werden drei große weiße Transparente mit dem Wort „Frieden“ heruntergelassen, am Gedenkstein vor der Kirche werden Blumen niedergelegt.
Auch Volker Eigemann legt nach der Gedenkzeremonie Blumen ab. Der 61-jährige Lehrer wurde bei dem Messerangriff schwer verletzt. Heute wendet er sich gegen eine politische Instrumentalisierung des Anschlags. „Letztlich war das eine Einzeltat“, sagt er. Das öffentliche Gedenken sei richtig: „Es war gut, hier gewesen zu sein.“
Andächtige Stille herrscht auch am Abend um 21.37 Uhr – dem Zeitpunkt des Anschlags: Hunderte Menschen haben sich zu einer Schweigeminute versammelt, sie halten Kerzen in der Hand und singen „We pray for Peace“ (Wir beten für Frieden). Hier und da ist ein Schluchzen zu hören, aber immer sind auch Menschen da, die trösten. Am Ende werden die Kerzen am Gedenkstein abgestellt und bilden ein kleines Lichtermeer. „Nehmt diesen Moment des Friedens mit und erzählt davon, gebt den Frieden weiter“, sagt die Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Solingen, Ilka Werner.
Anteilnahme und Mitgefühl, Blumen und Kerzen stünden für Menschlichkeit und ein friedliches Zusammenleben, sagt Pfarrer Joachim Römelt im Gottesdienst am Sonntagmorgen. Er habe keine Antwort auf die Frage, warum Gott unsägliches Leid nicht verhindere. Aber er glaube, dass Gott die Not teile und sich von Leid und Unrecht berühren lasse. Zu Schmerz, Not, Trauer und Zorn sage Gott: „All das schreit zu mir von der Erde. Und auch wenn es sich oft anders anfühlt: Mit all dem seid ihr nicht allein.“