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„So bescheuert, dass es mich glücklich macht“

Sie sind klein. Bunt. Wendig. Sie kosten wenig und bedeuten manchen doch viel. Israels ehemaligen Parlamentssprecher Avraham Burg faszinieren die Kreisel so sehr, dass er inzwischen Tausende besitzt

Andrea Krogmann/KNA

Ein kleiner Impuls, und der Kreisel beginnt sich zu drehen, wackelig erst, bis die Drehkraft stark genug ist. Stabil dreht er sich um die eigene Achse, bis die Geschwindigkeit nachlässt. Dann neigt er sich, die Schwerkraft gewinnt Oberhand, der Kreisel fällt um. Als Kreisel gilt alles, was starr ist und um seine eigene Achse rotieren kann. Soweit die Physik. Fasziniert hat das Phänomen dahinter die Menschheit seit jeher: als Spielzeug in den Händen von Generationen von Kindern, zum Glücksspiel, zum Wahrsagen. Oder als Sammelobjekt.

Sammelleidenschaft entstand durch Zufall

Avraham Burg ist so ein leidenschaftlicher Kreiselsammler. Mehr als 3500 Exemplare zählt seine Sammlung, von der der frühere Knessetsprecher sagt, sie mache ihn glücklich. „Ich komme jeden Tag nach Hause, öffne die Tür, und sofort muss ich lächeln. Weil es so be-scheuert, kindisch und verspielt ist.“
Dabei kam Burg eher zufällig zu seinen Kreiseln. Am Anfang, erzählt er, war da der kleine Junge, der es seinen Kameraden gleichtun wollte: „Der eine sammelte Streichhölzer, ein anderer Postkarten, wieder andere, vor allem die Mädchen, sammelten Servietten. Jeder sammelte etwas. Und ich hatte eine Sammlung von Sammlungen: Ich sammelte alles und war sehr enttäuscht von mir, dass ich nicht wirklich dezidiert etwas sammelte, wie Münzen oder Briefmarken.“
„Nicht besessen oder zwanghaft genug“ sei er gewesen, um ernsthaft etwas zu sammeln. „Bis heute nicht“, sagt er. Und steht vor Tausenden Holzkreiseln aus aller Welt, in allen Formen, Farben und Größen. Zumindest aber hartnäckig, wie ein Exot der Sammlung zeigt: ein anderthalb Millimeter großer Holzkreisel aus Japan. Der Weg des kleinen Japaners in die Idylle von Nataf gleicht einer Odyssee, an deren Anfang sein heutiger Besitzer beim Lauftraining in St. Petersburg verloren ging.
„Damals noch Leningrad“, sagt Avraham Burg und erzählt von einer stalinistisch-graubetonierten Nachbarschaft, von mangelnden Russisch­kenntnissen und der Werbung für eine Kreiselausstellung im Leningrader Museum. „Es war eine wunderbare japanische Sammlung. Ich schrieb den Namen des Künstlers auf. Das war vor E-Mail und Google. Ich schrieb einen Brief auf Englisch, ging zu einem Übersetzer, ließ ihn ins Japanische übersetzen, steckte ihn in einen Umschlag, verschickte ihn, mit Briefmarke.“ Monate später kam eine Antwort. Ein Teil der Kreisel fand den Weg nach Israel.
Auch einer der wenigen Metallkreisel der Sammlung hat einen langen Weg zurückgelegt, vom Deutschland der Nazizeit über Amerika nach Nataf. Schwer ist er, und mit deutlich sichtbaren Werkzeugspuren ein klobiger Kontrast zur filigranen Eleganz aus Fernost. Die Farbe der eingeprägten hebräischen Buchstaben beginnt abzublättern.

Ein Kreisel als Dank für Lebensrettung

Schwer wiegt auch seine Geschichte. Sie beginnt mit der Judenverfolgung in Nazideutschland und dem Versuch amerikanischer Juden, Verfolgte mit sogenannten Affidavits – Verwandschaftsbestätigungen – nach Amerika zu retten. Die Großmutter eines Freundes, erzählt Burg, habe ein solches Dokument ausgestellt. Eines Tages dann habe ein Mann an ihre Tür geklopft, in den Händen einen sogenannten Dreidel: „Sie haben mich aus dem Holocaustinferno gerettet. Ich arbeitete in einer Munitionsfabrik der Nazis. Im Untergrund, unter Gefährdung meines Lebens habe ich den traditionellen Kreisel für mich gemacht, um Chanukkah nicht zu vergessen und damit meine Identität. Er ist alles was ich habe, und ich möchte ihn Ihnen geben.“
Später gab sie den Dreidel an ihren Enkel weiter, besagtem Freund. Avraham Burg wiegt ihn in seinen Händen. Setzt ihn auf die metallene Spitze. Gibt ihm einen kräftigen Impuls. Ein paar torkelige Runden schwankt er über den Tisch, doch die Schwerkraft ist größer. Streng genommen könnte man sagen, ist es gar kein Kreisel, denn als solcher gilt nur, was um seine eigene Achse rotieren kann. Doch das wäre spitzfindig. In der Vitrine hat der handge-machte Zeitzeuge seinen Platz neben jenem Kreisel, der aus dem neidischen kleinen Jungen einen Sammler machte, einem kleinen roten Holzkreisel. „Eins der wenigen Spielzeuge, die mir von meiner Kindheit übrig blieben, ein Geschenk meiner Mutter, als ich drei oder vier Jahre alt war, und der irgendwie überlebte.“
Mit geschenkten Kreiseln geht die Geschichte weiter, „inoffizielle Phase“ nennt Avraham Burg diese Zeit: Jedes Jahr zu Chanukkah schenkte er seinen Kindern Kreisel. Nur interessierten die sich im Zeitalter von Atari und Tetris wenig für das Holzspielzeug. Es landete in einer Kiste, um jedes Jahr an Chanukkah hervorgeholt zu werden. „Dann wurde ich wahnsinnig, wenn jemand mit meinen Kreiseln spielte, weil – hey, du machst sie kaputt.“ Bis zu jenem Geburtstag vor 20 Jahren ging das so. „Plötzlich war da an der Wand eine wunderschöne Vitrine mit meinen damals 70, 80 Kreiseln. Es war ein Geschenk meiner Frau und meiner Kinder, und ich durfte mein ‚Coming out‘ haben.“ Auf einmal wurde die zweitrangige Kollektion legitim.
Der nunmehr bekennende Sammler brachte von unzähligen Auslandsreisen Kreisel mit. Er nennt es die „offizielle Phase“. Seither sind sie unter Verschluss, um sie zu schützen, vor allem aber, weil eine der Töchter sie „in einer so wundervollen Komposition“ arrangiert hat. Gespielt werden darf immer noch, mit den „Hunderten von doppelten Exemplaren in der Reservekiste“. Die Vitrinen, scherzt Burg über den geringen materiellen Wert seiner Sammlung, sind zehnmal so teuer wie alle Kreisel zusammen. Das ist es, was er so an ihr liebt: „Es ist das Leben, es ist beweglich, jeder kann es sich leisten, es ist populär, es ist universal.“ Als vor Monaten heftige Waldbrände das Haus Burg in Nataf bedrohten, stand die Familie vor einer schwierigen Frage: Kreisel mitnehmen oder nicht. Die Kreisel blieben. „Wenn das Haus nicht abbrennt, und ich habe alle Kreisel mitgenommen, dann muss ich sie neu arrangieren. Dann lass sie lieber brennen, und ich fange die Sammlung neu an.“

„Ein Segensspruch für diese Art von Wunder“

Das Feuer hat Haus und Kreisel verschont – und zu einer weiteren Anekdote rund um die Sammlung geführt. Eine Gruppe von „15, 20 sehr junger, sehr unschuldiger religiöser Mädchen“ aus dem Nachbardorf habe eines Abends den vom Feuer betroffenen Familien Kuchen für Schabbat gebracht. „Sie betraten das Haus und sahen auf einmal Tausende von Kreiseln an der Wand. Eine fragte die anderen: ‚Sollen wir einen Segen sprechen? Gibt es einen besonderen Segensspruch für diese Art von Wunder?‘ Die Kreisel machen Menschen glücklich, deshalb bin ich glücklich mit ihnen.“
Avraham Burg lächelt. Auch wenn er eher zufällig zu seinen Kreiseln gekommen ist: Der Zauber der bunten Spielzeuge ist ansteckend. Er lehnt den Oberkörper über den Tisch, den Kopf auf die linke Faust gestützt. Die Rechte gibt den Impuls. Geschmeidig dreht sich der rote Kreisel aus Kindertagen um seine Achse. Das ist es, was ein Kreisel tut.