Studentin Charlotte Zach und Abiturient Finn Lange machen mit ihrem Podcast-Projekt «Sitzstreik» ungehörte Perspektiven hörbar: Humorvoll und ungeschönt offen berichten die Rollstuhlfahrer vom Alltag mit Behinderung.
Schwabach/Hildesheim (epd). Der 18-jährige Finn Lange sitzt in Kammerstein bei Schwabach mit Kopfhörern vor seinem Laptop. Ihm gegenüber, digital aus Hildesheim zugeschaltet, spricht Charlotte Zach (27) ins Mikrofon. Für die neue Folge des Podcasts «Sitzstreik» berichtet die Rollstuhlfahrerin von einem Supermarkt-Besuch: Zach wartet mit ihrer Assistentin, die sie im Alltag unterstützt, an der Kasse und will bezahlen. Die Kassiererin blickt auf Zach in ihrem Rollstuhl, wendet sich dann an die Begleiterin und fragt: «Oh, was hat denn die Arme?»
Eine Situation, die die Psychologiestudentin immer wieder erlebt. «Man bemitleidet mich, impliziert, ich würde leiden. Und man bevormundet mich, weil man annimmt, ich könnte gar nicht selbst kommunizieren», berichtet sie. Finn Lange, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt, kennt die Problematik. «Mitleid bringt uns nicht weiter», sagt er.
«Wie behinderte Personen in den Medien dargestellt werden», erklärt Zach, «folgt häufig zwei Extremen.» Entweder werde der arme Behinderte porträtiert, der einsam zuhause leidet. «Oder die unglaublich starke, inspirierende Person, die trotz ihres Schicksals unbeugsam ihr Leben meistert.» Es sei Aufklärungsarbeit nötig, die die vielen Graustufen dazwischen abbilde und Menschen mit Handicap nahbar mache. Mit ihrem Podcast «Sitzstreik» wollen Zach und Lange dazu einen Beitrag leisten – mit einer großen Portion Humor und offenen Worten.
In «Sitzstreik» teilen Zach und Lange ihre alltäglichen Erfahrungen mit den Hörern. Manche Fragen zu ihrem Leben mit Behinderung, so erzählen sie, können sie einfach nicht mehr hören. «Kannst du Sex haben?», sagt Lange, werde er immer wieder ganz
unverblümt gefragt. «An meine Privatsphäre denken die Leute dann kaum – es fehlt ein Stück weit die Scham.» Zach kommt das bekannt vor: «Manche stellen unbedarft super-persönliche Fragen», erzählt sie, «ohne mich zu kennen.»
Die Idee, einen Podcast «aus der Rollstuhlperspektive» aufzunehmen, trieb Finn Lange schon länger um. Über Instagram fand er Charlotte Zach. Sieben Folgen sind mittlerweile aufgezeichnet, weitere sind geplant. Zach und Lange sprechen über das Bildungswesen, die Arbeitswelt, die Leistungsgesellschaft. Aber sie klopfen auch ihre Hobbys auf Barrierefreiheit ab: Festivals und Konzerten haben die beiden eine eineinhalbstündige Folge gewidmet.
Der Heavy-Metal-Fan Lange schwärmt vom großen Gemeinschaftsgefühl unter den Festivalbesuchern. «Ob mit anderen Rollstuhlfahrern auf der Tribüne oder mit Menschen ohne Behinderung: Das fühlt sich richtig familiär an – unter völlig fremden Leuten.» Auf Metal-Festivals werde angepackt, man helfe zusammen. «Alle gehen sofort zur Seite, wenn ich zur Rolli-Tribüne fahre, fragen, ob sie unterstützen können, holen mir vielleicht sogar ein Getränk.»
Humor sei stets ein wichtiger Begleiter, erzählt Zach. «Auf Festivals gibt es ja die Regel, dass man keine Flaschen mit hineinnehmen darf. Wir hatten aber noch Getränke übrig.» Da habe sie sich vor dem Sicherheitscheck kurzerhand auf die Flaschen gesetzt. «Und wir sind durch die Kontrolle durch – nach dem Motto: Wird schon keiner die Rollstuhlfahrerin fragen, ob sie mal bitte kurz aufstehen kann.»
Zach berichtet von ihren Erfahrungen aus Kindheit und Schulzeit. Ihren Eltern sei nahegelegt worden, ihre Tochter nicht in einen inklusiven Kindergarten zu schicken oder auf eine herkömmliche Grundschule, sondern in die jeweilige Sonderform für Behinderte. «Wieso werden nicht beide Lebensentwürfe gleichermaßen unterstützt?
Damit es tatsächlich eine freie Wahl geben kann?», fragt sie.
Mehr Lobbyarbeit von Behinderten für Behinderte, betonen Zach und Lange, sei zur Lösung der Probleme essentiell. «Politische Inklusion» müsse auf die Agenda. In der Corona-Krise habe sich das besonders drastisch gezeigt: «Bei der Impfpriorisierung wurden wir, Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen, trotz erhöhten Risikos zunächst schlicht vergessen», berichtet Lange. «Bei anderen Personengruppen, mit größerer Lobby, wäre der Aufschrei wohl groß gewesen.»