Artikel teilen

Singen und Schwingen

Töne und Gebet bringen die Erde in Schwung. Gedanken zum Predigttext am Sonntag Lätare.

Predigttext am Sonntag Lätare, „Freuet euch“: Jesaja 66,10–14

Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. Denn so spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. Ihr werdet’s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des Herrn an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden. 

Von Sibylle Sterzik

Freuet euch mit Mailand! Die Italiener reißen die Fenster auf und singen von den Balkonen Beethovens Ode an die Freude. #FlashmobSonoro: 200 Jahre Beethoven – die ganze Deutsche Schule Mailand spielt die Europahymne. Eine Hommage an den Jubilar, aber vor allem an Europa, dass wir singend zusammenstehen in diesen Zeiten. Wo wir nichts mehr brauchen als Nähe und Zuspruch, Vereintsein und gegenseitiges Halten, statt Isolation, Verunsicherung und Vereinsamung. Musik verbindet und heitert auf, erst recht in diesen Tagen. „Gemeinsam und mit Zuversicht wird Italien, Europa und die ganze Welt das Coronavirus besiegen“, schrieb mir Anne Stempel-de Fallois, Pfarrerin und Lehrerin der Mailänder Schule am vergangenen Freitag. Jeden Freitag ab 18 Uhr wird das Singen jetzt wiederholt. 

Besonders ­Kinder, Jugendliche und Familien freuen sich, dass endlich was los ist, Aggressionen können raus, auch Traurigkeit. Weil es so viele machen, stärkt es das Gefühl „Wir gehören zusammen“. Nicht alle haben den Virus. „Wir leben!“, so die Lehrerin. Und die nächste Aktion folgt gleich am vergangenen Samstag: „In der Art und Weise wie John Lennons wunderbarer Song ,Imagine‘ Millionen von Menschen inspirierte, machen wir es auch. Wir überschwemmen soziale Netzwerke auf der ganzen Erde und erreichen auch alle kleinen Winkel der Welt. Mit der Bewegung „Wasser trinken und den Frieden nähren“. Die Idee: Bei jedem Wassertrinken, möglichst alle 15 Minuten, diesen Satz zu verinnerlichen: „Die Welt ist in Frieden und ich bin es auch.“ Gottes Wille und unser Mantra gegen die Angst. Friede auf Erden. Freuet euch. „Ohne Anstrengung werden wir Millionen von Menschen pro Stunde sein, die den Satz wiederholen, beten oder mentalisieren“, schreibt Anne Stempel-de Fallois. „Bilden wir einen Fluss von hochfrequenten Schwingungen zugunsten des Friedens. Die Kraft des Gebets wird sich jedes Mal vervielfachen, wenn jemand der Bewegung beitritt.“

Ich lasse mich anstecken. Viele solcher Sätze können folgen. Auch der Obenstehende. Wir machen die Welt zu einem Ort des Friedens mit starken Momenten der Freude. Freuet euch, Mailand, Wien, Zürich, Berlin und wie die Städte alle heißen. Auch und besonders Jerusalem. Und Bethlehem, das abgeriegelt ist. Und du Gott, lass es wieder grünen. 

Aber das erlebe ich auch: „Ich bin sehr traurig“, sagt die ältere Dame im Hintergrund beim Anruf, dass heute kein Gottesdienst ist. Es trös­tet sie auch nicht, dass wir ein Gebet halten und mit dem Segen nach Hause gehen. „Ein stiller Weltuntergang“, schreibt eine andere besorgte Frau. Die Altenheime raten von Besuchen ab. Die Pflegerin hat Tränen in den Augen, als sie sieht, wie ich mich von Mutter verabschiedete. Für wie lange?

Aber wir sind nicht machtlos. Wir beten und singen und trösten. Und tragen uns gegenseitig auf dem Arm. Den Gott hält.