Von Almut Stümke
Advent ist wie die teure Sektflasche im Vorratsschrank: noch nicht. Aber es ist bald so weit. Lass uns noch warten auf die besondere Gelegenheit. Adventslieder sind Musik gewordener Bedürfnisaufschub.
Worauf warten wir? Verschiedene Bilder dazu sind unterschiedlich real in unserer Lebenswirklichkeit wiederzufinden:
Das kenne ich: Am Hafen stehen und ein Schiff erwarten, das „ein teure Last“ geladen hat. Es strapaziert meine Geduld, bis es wirklich anlegt – wenigstens ist es schon von weitem zu sehen.
Einen Gast zu erwarten, kann ich auch sehr gut nachfühlen. Ich mache gerne „hoch die Tür“ und „die Tor weit“. Dafür spare ich gerne die Sektflasche auf und öffne sie nicht am Vorabend!
Machtgefälle ist out
Das Bild vom „König“ oder „Herren“, den ich erwarten soll, brauche ich tatsächlich nicht mehr. Das sage ich hier jetzt mal ganz ehrlich. Mein Gott ist weder eindeutig männlich noch benötige ich eine so starke Betonung des Machtgefälles zwischen mir und Gott, wo doch Jesus mein Bruder geworden ist und Gott an meiner Seite stehen will.
In dem lateinischen Original zu dem Lied „O komm, o komm du Morgenstern“, (EG 19), wird ursprünglich auch nicht ein „Herr“ sehnlichst erwartet, sondern „Emmanuel“, der für Israel geboren werden soll. Wer war jetzt noch mal Immanuel? Ich muss das in der Bibel nachschlagen, bei Matthäus 1,23, welches sich auf Jesaja 7,14 bezieht. Ich lese von Josef, der seine schwangere Verlobte verlassen will, und von Gott gesagt bekommt: Josef, Nachkomme Davids, scheue dich nicht, deine Frau Maria zu dir zu nehmen. Das Kind, mit dem sie schwanger ist, kommt von der heiligen Geistkraft. Sie wird einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Denn er wird sein Volk von seinen Übertretungen der Gebote Gottes retten. Das ist alles geschehen, damit sich erfüllt, was Adonaj durch den Propheten so gesagt hat: „… deshalb wird Euch die Herrschaft selbst ein Zeichen geben: Sieh doch, eine junge Frau ist schwanger, sie wird ein Kind gebären und es ,Gott mit uns‘ – ,Immanuel‘ nennen.“
Gott ist mit uns durch alle Krisen
„Gott mit uns“ ist die Zusage, die ein geplagtes Volk im Jesajabuch zugesprochen bekommt. Was für ein Trost! Gott ist nicht erhaben über uns, nicht gegen uns, nicht fern von uns. Gott ist mit uns, durch all die Tiefen, durch alle Krisen, durch alle Ängste! Und: Gott wird Mensch, wird sehr körperlich. So eine Geburt ist ja nicht gerade eine saubere Sache. Gott wird die Geburt erleben, später Flucht, Streit, Folter, Tod.
Die drei Strophen der deutschen Fassung wählen je ein lebensnahes Bild: Der Morgenstern als klares Licht im Dunkel unserer Nacht (Offenbarung 22,16). Der Friedensbringer, der von innerem wie äußerem Bösen befreit. Der Gott, der uns bis ans Ende nahe ist, bis wir ihn als freie Menschen preisen können. Was für eine Aussicht!
Außerdem wechselt der Text in jeder Strophe mit einem Kehrvers die Perspektive. Die Strophen wenden sich an Emmanuel oder Gott, den Herrn und Morgenstern. Im Kehrvers werden die Wartenden selbst angesprochen: Freut Euch! Es ist bald so weit! Es ist Auslegungssache, ob Gott hier antwortet, oder ob eine menschliche Stimme zu allen Wartenden spricht. Oder, und den Gedanken finde ich besonders schön, ob sich die wartende Gemeinde untereinander Mut zusingt. Sich gegenseitig stützt. Wahrnimmt, wer gerade am meisten Trost braucht. Sich gegenseitig durch die dunkle Zeit trägt. Gegenseitiges Trösten kann Trost sein.
Was ist mir noch Trost außer diesen Gedanken?
Mir ist es ein körperlicher, ein sinnlicher Trost, dieses Lied nicht nur zu denken, sondern es zu singen. Ich lasse mich von der Melodie einnehmen und mitreißen in einen großen Chor der Gläubigen, in einen Gesang, der durch die Jahrhunderte und durch die Kulturen trägt und bewegt. Eine Melodie, die erstmal mit einem aufsteigenden Dreiklang eine verhaltene Hoffnung ausstrahlt: „Hoffnung“ durch die aufsteigende Bewegung, „verhalten“, weil sie in Moll beginnt. Die zweite Atemphrase kehrt das Motiv des aufsteigenden Dreiklangs um, bewegt sich also abwärts und spiegelt dann fast exakt die erste Zeile, um zum Ausgangston zurückzukehren.
Wenn sich die Stimme nach oben schwingt
Nach einem Mittelteil im gleichen Tonraum wendet sich die Klangfarbe mit einfachen Tonschritten in die parallele Durtonart. Ziemlich überraschend wird dann der höchste Ton der Melodie angesprungen, der kommt auch nur das eine Mal vor. Dies war die Stelle mit dem Perspektivwechsel: Diese fünfte Verszeile steht komplett in Dur, bevor die Bewegung mithilfe einer Wiederholung der zweiten Verszeile wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt.
Jedes Mal reißt es mich an dieser einen Stelle immer wieder mit – wenn sich aus der mittelalterlichen Melodie mit ihren bittenden, erwartungsvollen Gedanken im Fünf-bis Sechs-Ton-Raum plötzlich die Stimme nach oben schwingt und wir uns gegenseitig laut-hals zusingen, denn eigentlich macht die Stelle nur Spaß, wenn man hier aussingen darf „Freut: Euch!“ Es wird schon werden, es ist bald so weit!
Von franziskanischen Nonnen im 15. Jahrhundert in Frankreich geschrieben, wurde die Melodie im 19. Jahrhundert in England von Thomas Helmore veröffentlicht, ohne dass er die Verfasserinnen nennen konnte. Erst die britische Forscherin Mary Berry entdeckte 1966 das Manuskript aus dem 15. Jahrhundert in der französischen Nationalbibliothek und konnte es den Franziskanerinnen zuordnen.
Der ursprünglich lateinische Text „Veni, veni Emmanuel“ wurde wohl auf andere Melodien gesungen, 1710 wurde er in Deutschland zum ersten Mal gedruckt. Die englische Fassung „O Come, o come Emmanuel“ (1851) machte die Verse in Großbritannien und Amerika bekannt und nun fügten sich Text und unsere heute verwendete Melodie zusammen. Übersetzungen in weitere Sprachen und verschiedene ergreifende Bearbeitungen für Chöre folgten; kaum ein schwedischer Kammerchor, der dem Publikum in seinen Luciakonzerten nicht auch eine genussvolle Klangmassage mit diesem Lied bietet. Die deutsche evangelische Textfassung hat Otmar Schulz im Advent 1975 veröffentlicht, „um endlich die fröhlich-ausladende Melodie singen zu können“ – wunderbar, vielen Dank, Herr Schulz!
Was mir Trost gibt?Singen, am besten in Gemeinschaft.
Sich mühselig und beladen zur Chorprobe zu schleppen und energiegeladen und ausgeglichen zurückzukehren – das kennen Chormenschen wie Chorleitungen. Singen schüttet Glückshormone aus und baut Stresshormone ab, die Atmung reguliert sich, Achtsamkeit wird geschult, soziale Kompetenzen werden trainiert. Im besten Fall treffe ich noch freundschaftliche Kontakte in der Gruppe und erlebe regelmäßig die Bestätigung eines erfolgreichen Auftrittes. Singen ist einer der besten Trostspender – da knallen innerlich die Korken!
Almut Stümke ist Landessingwartin der EKBO.
O komm, Morgenstern
1. O komm, o komm, du Morgenstern, lass uns dich schauen, unsern Herrn. Vertreib das Dunkel unsrer Nacht durch deines klaren Lichtes Pracht. Freut euch, freut euch, der Herr ist nah.
Freut euch und singt Halleluja.
2. O komm, du Sohn aus Davids Stamm, du Friedensbringer, Osterlamm. Von Schuld und Knechtschaft mach uns frei und von des Bösen Tyrannei. Freut euch, freut euch, der Herr ist nah.
Freut euch und singt Halleluja.
3. O komm, o Herr, bleib bis ans End,
bis dass uns nichts mehr von dir trennt, bis dich, wie es dein Wort verheißt, der Freien Lied ohn Ende preist. Freut euch, freut euch, der Herr ist nah. Freut euch und singt Halleluja.
Melodie: Frankreich, 15. Jahrhundert, Text: John Mason Neale 1851/1861.Deutsche evangelische Textfassung: Otmar Schulz im Advent 1975Evangelisches Gesangbuch Nr. 19