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Siehe, das ist … dein Sohn?

Junge oder Mädchen? Intersexuelle Menschen haben sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale. Die Behandlung zwischengeschlechtlicher Kinder stellt Ärzte und Eltern vor schwierige Fragen. Eine Mutter erzählt

Tomsickova - stock.adobe.com

Sonja sollte ein Mädchen sein. Das sagten zumindest die Ärzte in der Schwangerschaft zu Katharina Berg (Namen geändert). Doch kurz nach der Geburt war klar: Das Baby, das Sonja heißen sollte, war kein Mädchen. Aber auch kein Junge: Die Ärzte konnten das Geschlecht nicht bestimmen. „Wir nannten unser Kind dann erst mal Bärchen“, erzählt Berg.
Intersexuelle Menschen können nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden. Ihre Chromosomen, Hormone, Keimdrüsen und Genitalien weisen sowohl männliche als auch weibliche Elemente auf. Es gibt viele Variationen, und nicht alle sind sofort an einem auffälligen Genital sichtbar. Manche intersexuellen Menschen sehen weiblich aus, haben aber statt Gebärmutter und Eierstöcken Hoden im Bauchraum.
Experten schätzen, dass in Deutschland 150 bis 200 Kinder pro Jahr mit uneindeutigem Geschlecht zur Welt kommen. Wie sie medizinisch behandelt werden, ist umstritten und wirft komplexe Fragen auf: Hat Geschlecht wirklich nur die beiden Ausprägungen männlich und weiblich? Hängt es von den Genen ab? Den Genitalien? Der Erziehung? Und welche Entscheidungen dürfen Eltern darüber treffen, wie ihr Kind aufwächst?
Mütter und Väter stellen anfangs meist weniger philosophische oder medizinische Fragen, wie Anike Krämer weiß. Die Sozialwissenschaftlerin der Ruhr-Universität Bochum ist Co-Autorin einer Studie über die Versorgung zwischengeschlechtlicher Kinder in NRW. Die von ihr befragten Eltern wollten ganz praktisch wissen: „Wie rede ich mein Kind an? Was ziehe ich ihm an? Auf welche Toilette soll es später mal gehen?“
Katharina Berg machte sich nach der Geburt Sorgen. Die größte war, dass sich ihr Kind irgendwann outen muss. Deshalb beschlossen sie und ihr Mann schnell, offen mit der Intersexualität umzugehen. „Das war die Erlösung“, sagt die Mutter. Mit ihrer Offenheit ernteten die Bergs Überraschung, Interesse und Neugier – aber nie Ablehnung.
Bärchen nannten sie dann doch Sonja. Von klein auf wusste Sonja, dass sie nicht nur ein Mädchen ist. Sie sagte bald selbstbewusst: „Ich bin beides.“ Dass Sonja aber mit weiblichem Namen und eher weiblichem Körper aufwuchs, liegt auch an den Ärzten, die sie nach der Geburt behandelten.
Sie empfahlen eine Entfernung der Hoden, die Sonja im Bauchraum hatte, wegen des erhöhten Krebsrisikos. „Aber auch, weil die Ärzte sich ein – sei es vorübergehendes – Aufwachsen in einem nicht festgelegten Geschlecht nicht vorstellen konnten“, vermutet Berg. Heute sieht sie den Rat der Ärzte kritisch.
Noch bis vor 15 oder 20 Jahren sei meist versucht worden, das Geschlecht intersexueller Menschen bestmöglich festzulegen, erklärt die Psychologin Katinka Schweizer vom Institut für Sexualforschung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. „Intersexuellen Kindern wurde meist die weibliche Geschlechtsrolle zugewiesen, weil es einfacher schien, dies operativ ‚herzustellen‘.“
Selbsthilfegruppen wie der Verein „Intersexuelle Menschen“ prangern diese Eingriffe heute als Menschenrechtsverletzung an. Zwar sind nach Schweizers Einschätzung mittlerweile viele Ärzte zurückhaltender. „In der Praxis kommt der Druck aber oft auch von Eltern, die wollen, dass ihr Kind ‚normal‘ aussieht.“ Gründe seien meist Ängste und Unsicherheit.
Schweizer fordert deshalb wie die Sozialwissenschaftlerin Krämer mehr Beratungsangebote für Eltern. Die Bochumer Forscher sind zudem für ein Verbot rein kosmetischer Operationen, denen die Betroffenen nicht zustimmen können.
Berg würde heute anders über die Operation entscheiden. „Ich weiß jetzt, dass es möglich ist, ein Kind geschlechtsoffen zu erziehen“, sagt sie. Zwar sei ein solcher Weg nicht leicht. Aber es gebe Hilfe. So bietet der Verband „Intersexuelle Menschen“ Beratungen und Selbsthilfegruppen an. Auch Berg will ihre Erfahrungen weitergeben: „Gespräche mit anderen Eltern sind uns bis heute eine große Stütze.“
Heute würde Katharina Berg warten, bis sich ihr Kind selbst äußern kann. Tatsächlich fand Sonja schon mit vier Jahren deutliche Worte: Diese „Mädchentabletten“ – die Hormonersatztherapie, von der ihre Eltern erzählt hatten – werde sie nicht nehmen. Inzwischen ist Sonja zwölf und bezeichnet sich als intersexuellen Menschen, der zu den Jungs gehört. Bald wird er anfangen, männliche Hormone zu nehmen. Und wahrscheinlich heiße Sonja bald nicht mehr Sonja, sagt Berg. Seinen neuen Namen solle sich ihr Kind selbst aussuchen.