Walsrode / Heidekreis. Zlata und „Tante Hedwig“ sind unzertrennlich. Den ganzen Tag schmusen und toben sie. Kommt Zlata ein Fremder zu nah, knurrt der Schweizer Sennhund “Tante Hedwig”. Ein Wachhund eben. Er ist den Menschen treu, gibt Schutz und warnt bei Gefahr – all das benötigt die 13-Jährige in diesen Tagen mehr denn je.
Zlata ist mit ihrer Mutter Oksana, ihrem Cousin Dima und ihrer Großmutter Ljuba Semenjuk vor kurzem im Walsroder Ortsteil Bomlitz im Landkreis Heidekreis angekommen. Sie sind vor dem Krieg aus ihrer Heimatstadt Kovel in der West-Ukraine geflohen. Jetzt wohnen die vier bei Herwig Sager, im Haus seiner kürzlich verstorbenen Mutter.
Sommerfeste bei blauem Himmel
Ljuba kennt Bomlitz, und sie kennt Herwig Sager. Sie war schon oft bei ihm zu Gast. Seit mehr als zehn Jahren dolmetscht die 62-Jährige für die “Kinderhilfe Kovel”, einen Verein, der Anfang der 90er-Jahre infolge des Reaktorunglücks in Tschernobyl entstanden ist und Erholungsurlaube für ukrainische Kinder bei Gastfamilien organisiert.
Das erste Mal kam Ljuba 1992 mit ihrer damals zehnjährigen Tochter Oksana. Fröhliche Sommerfeste und blauer Himmel – das war Walsrode für die Semenjuks. „Wir haben immer so viel gelacht und jetzt?“, fragt die zierliche Frau, und die Tränen laufen ihr unablässig über das Gesicht.

Nie habe sie sich träumen lassen, dass es so weit kommen könnte. Natürlich gäbe es schon lange Sorgen und Ängste, aber die Separatistengebiete Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine lägen weit von der 70.000-Einwohner-Stadt Kovel entfernt, fast 1.200 Kilometer. Dass Russland die gesamte Ukraine angreifen würde. schien undenkbar.
Dann fielen die Bomben
„Ich wollte nicht weg“, sagt Ljuba, die bereits viele Jahre verwitwet ist. „Aber dann rief Oksana mitten in der Nacht und sagte, Bomben würden fallen, da haben wir gepackt.“ Eine kleine Tasche für jeden, 20 Minuten später ging es los. Mit Sager standen sie bereits in Kontakt. „Wir haben auch vor dem Angriff oft miteinander telefoniert.“ Für Sager stand außer Frage, dass er helfen würde. Auch dem 62-Jährigen fehlen die Worte. Er wischt sich Tränen aus den Augen. „Ich hätte nie gedacht, dass das passieren könnte.“
Die Frauen sorgen sich jede Stunde, jede Minute. An Schlaf ist nicht zu denken. „Mein Kopf und mein Herz platzen“, sagt Ljuba und reibt sich die Schläfen. Ihre Gedanken sind vor allem bei Sirgei, Ljubas Sohn und Dimas Vater, sowie Oksanas Mann Vitali. Beide sind in Kovel geblieben. Sie sind 43 und 40 Jahre alt und dürfen die Ukraine nicht verlassen. Das wollen sie auch nicht, wie Oksana betont. Die Männer bauten Barrikaden und Molotow-Cocktails, transportierten Lebensmittel und Medikamente. „Sie helfen, unsere Stadt zu beschützen“, sagt sie.
Ein Aufruf – 200 Rückmeldungen
Michael Haacke ist langjähriger Vorsitzender der „Kinderhilfe Kovel“. Als er eine „SOS-Mail“ aus dem Rathaus Kovel erhielt, mit der Bitte, Unterkünfte zu besorgen, startete er einen Aufruf. Mehr als 200 Menschen meldeten sich und boten Zimmer an, nicht nur in der Region, „sondern aus einem Gebiet von Bremen bis Holzminden“, sagt Haacke.
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Dass die Hilfe für die Ukraine in Walsrode so effizient läuft, liegt Haackes Ansicht nach in der langjährigen, engen Verbindung mit Kovel. Die Partnerschaft, die 2003, lange nach der Vereinsgründung, geschlossen wurde, habe auf einem vertrauensvollen Miteinander aufsetzen können. Das sei wichtig. „Die Menschen haben die Städtepartnerschaft mit Leben gefüllt“, sagt der 62-jährige Tischler, „die existiert nicht nur auf dem Papier.“