Eine simple Erfindung -elektrische Lockenwickler – löst im Dänemark der 1960er Jahre einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel aus. Eine Arte-Serie begibt sich auf die Spuren der Ereignisse – und begeistert.
Diese Frage muss erlaubt sein: Wieso haben deutsche Fernsehsender “Carmen Curlers” bislang übersehen? Die Serie von Danmarks Radio stammt von 2022 – und sie ist eine Sensation!
Offensichtlich und Gott sei Dank geht bei Arte der Blick über den Tellerrand, sonst würde “Carmen Curlers” nicht jetzt beim europäischen Kulturkanal ins Programm kommen. Zwei Staffeln, sprich 15 Episoden werden ausgestrahlt, für Ende des Jahres wird eine dritte Staffel erwartet.
Die Serie beruht, wie es so schön heißt, “auf wahren Begebenheiten”, nämlich auf der Geschichte des dänischen Unternehmers Arne Byberg Pedersen, der Anfang der 1960er Jahre von der Erfindung elektrischer Lockenwickler liest. Der Radiohändler erkennt die Chance seines Lebens: Er wird eine Revolution in der Beauty-Welt auslösen, jede Frau wird mit seinen “Carmen Curlers” in zehn Minuten perfekte Haare haben. Schluss mit den stundenlangen und teuren Sitzungen in den Frisiersalons, und das nicht nur in Dänemark, sondern in der ganzen Welt.
Die Serie fokussiert nicht allein auf das Wirken und Werden des Entrepreneurs, der hier Axel Byvang (Morten Hee Andersen) heißt. Erzählt wird von Axel und seiner Frau Tove (Rosalinde Mynster), vom holprigen Geschäftsstart und von den Bauersfrauen, die wie Birthe Windfeld (Maria Rossing) aus der Landwirtschaft in die Lockenwickler-Produktion wechseln. Selbst verdientes Geld und neue Freiheit verändern nicht nur das Leben der Landfrauen, sie gehen auch an der Gesellschaft nicht spurlos vorüber. En passant wird die Frage verhandelt: Gab ein Frisiergerät den Startschuss für die Frauenbefreiung und löste einen nicht wieder umkehrbaren Emanzipationsschub aus?
Die Serie verknüpft zahlreiche Erzählstränge zu einem Porträt-Teppich der 1960er-Jahre. Ausstattung, Kostüme und Musik spiegeln Lebensverhältnisse, Lebensläufe und poppig-buntes Lebensgefühl.
Um Zeit und Welt auferstehen zu lassen, braucht es einen breiten Kranz an Figuren. Der von unerschöpflichem Optimismus geprägte Unternehmer Axel Byvang zahlt auf sein Eheleben ein. Tove wird die Provinz für ein Kunstgewerbestudium in Kopenhagen verlassen, den gemeinsamen Sohn wird sie mitnehmen: “Ich habe niemals etwas für mich getan”, sagt sie und zu Axel: “Du würdest auf nichts verzichten.” Und auch Axel will nach Kopenhagen, seine Affäre mit der Sekretärin Lis (Sofie Torp) beenden und zugleich an der internationalen Expansion seines Unternehmens weiterarbeiten.
Die Bäuerin Birthe hat ihren schwerkranken Mann Jörgen (Lars Ranthe) zu Hause, mit ihrem Sohn Svend (Louis Naess-Schmidt) hält sie den Hof am Laufen, zugleich ist sie die rechte Hand von Axel Byvang in der Firma. Als Personalchefin tritt sie mit Verve für die beschäftigten Frauen ein, die neues Selbstbewusstsein gewonnen haben und sich deshalb gegen einen aufdringlichen Kollegen handfest zu wehren wissen.
Nur einige der vielen Erzählstränge, nur einige der Charaktere, die im Lauf der Folgen an Tiefe und Prägnanz gewinnen. Es geht auf und ab, seitwärts, rückwärts und vorwärts, Privates trifft Betriebliches, auch an Betrug, Verrat und Vietnam-Protest fehlt es nicht – Drama wird zur Komödie, Komödie zur Tragikomödie. Darüber reflektiert die Serie ein Kapitel der dänischen Gesellschaft: Emanzipation der Frauen durch Arbeit, Wandel der Moralvorstellungen, Klassenkampf, Arbeitskampf, Homosexualität – eine umfassende Entwicklung, zu der auch der elektrische Lockenwickler seinen Teil beitrug.
“Carmen Curlers” entfesselt einen so burlesken wie bodenständigen, so erfrischenden wie oszillierenden Reigen. Selbst Tanzshow, Split-Screen- und surreale Momente werden nicht gescheut. Das erzeugt ein fulminantes Zuschauervergnügen und immer wieder stellt sich die Frage neu, welcher Figur gerade die Sympathie, welcher die Antipathie gilt.
Morten Hee Andersen führt als Axel Byvang die Truppe an, auf Augenhöhe agiert die Birthe Windfeld der Maria Rossing. Sie bieten wie das gesamte Ensemble hochpräsentes, lebenswirkliches Personal an, ohne zwanghaft authentisch wirken zu wollen. Mit “Carmen Curlers” entsteht ein Zeitbild aus Sozial-, Wirtschafts-, Gender- und Gesellschaftsgeschichte, das zum Triumph des Erzählfernsehens gerät.