Am 1. November 1874 fand auf dem Zentralfriedhof die erste Bestattung statt. Hunderttausende sollten folgen. Doch der Friedhof ist mehr als eine Totenstätte – für die Lebenden ist er Park, Besinnungsort und Gemüsegarten.
Hier liegen sie, die Größen Österreichs. Von Beethoven, Strauss und Schubert über Arnold Schönberg bis hin zu Falco und Udo Jürgens. Der Wiener Zentralfriedhof wurde vor 150 Jahren eröffnet. Die erste Einzelbestattung war jene von Jakob Zelzer, durchgeführt am 1. November 1874. Das Grab existiert bis heute – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Verwaltungsgebäude an der Friedhofsmauer.
Seither wirft der Friedhof ein Schlaglicht auf die Wiener Stadtgeschichte und birgt Tausende Stadt-Geschichten. So wie die Gruft der Familie Thonet. “Quasi der Vorläufer von Ikea”, sagen Kenner scherzhaft. Der deutsche Tischlermeister Michael Thonet (1796-1871), der 1842 nach Wien kam, ist Erfinder des Kaffeehausstuhls. Mehr als 40 Millionen Mal wurde sein “Stuhl Nr. 14” verkauft – verschickt in kleinen Paketen, zusammensetzbar mit nur sieben Schrauben.
Einige Ecken weiter zieht ein anderes Grab Blicke auf sich. “William Robert Jones wurde am 20.11.2002 in den USA hingerichtet”, lautet die Inschrift. Für zeitweiliges Aufsehen sorgte eine Strichliste – 983 Einkerbungen, einen für jeden Hingerichteten seit der Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA 1977 bis Dezember 2003. Jones wurde wegen Mordes verurteilt, beteuerte bis zum Schluss seine Unschuld. Für ihn stand fest: Er wollte nicht in dem Land begraben werden, in dem man ihm das Leben genommen hatte. Seine Frau, eine Österreicherin, ließ ihn daraufhin in Wien bestatten.
Der Wiener “Gottesacker” macht seinem Namen seit gut einem Jahr auch in anderer Hinsicht alle Ehre. Der Trend Urban Gardening hat auch hier Wurzeln geschlagen. Das Unternehmen “Ackerhelden” bietet Gemüseanbau auf zentral gelegenen, ehemaligen Grasflächen des Friedhofs an. Um ein Beet von 24 oder 40 Quadratmetern bewirtschaften zu können, muss man über ein Grab auf einem der 46 Wiener Friedhöfe verfügen. Die Ackerflächen sind dann online über das “Digitale Grab” für 150 Euro beziehungsweise 225 Euro pro Saison buchbar.
Das Ackerhelden-Team betreut und berät die Gärtner, bereitet Beete vor, pflanzt erste Gemüsekulturen und stellt Gartengeräte zur Verfügung. Dadurch sollen auch Anfänger ohne grünen Daumen angesprochen werden. In der vergangenen Saison von Mai bis Ende Oktober beackerten zwischen 60 und 90 Menschen ihre Parzellen. Für manch einen ist das Gärtnern auf dem Friedhof auch eine Form der Trauerarbeit.
Nicht nur auf dem Wiener Zentralfriedhof, auch auf dem Friedhof Süd-West bietet das Unternehmen Ackerhelden Gemüsegärten an. Die Friedhofskooperation zeigt: In Österreichs Metropole geht man mit dem Tod gelassen um. Nicht umsonst sang der österreichische Komponist Georg Kreisler 1969: “Der Tod, das muss ein Wiener sein”. Auch in Deutschland gibt es Ackerhelden-Gärten an elf verschiedenen Standort, Friedhöfe sind allerdings nicht dabei.
Die Grabkultur ist im Wandel – auch auf dem altehrwürdigen Zentralfriedhof. Auf dem rund 2,5 Quadratkilometer großen Friedhof, der zu den größten Europas zählt, gibt es bei der Gestaltung der letzten Ruhestätte kaum Vorgaben. Rund 100 Kilometer betonierte Straße und ein Wegenetz von insgesamt 450 Kilometern verbinden die 330.000 Grabstätten. Besuchern ist die Zufahrt mit dem PKW gestattet. Auch Fahrradfahren ist erlaubt, Einradfahren und Skaten ebenso – Motorräder, Mopeds und Quads dagegen müssen draußen bleiben. Und seit 1975 ist auch Jagen auf dem parkähnlichen Gelände verboten, auch wenn regelmäßig der Wildbestand am Friedhof erhoben wird.
Alle Hände voll zu tun haben Totengräber – sie sind unter anderem zuständig für die Ehrengräber, bei denen die Stadt Wien für Grabmiete und -pflege aufkommt. Die Idee für diese besonderen Gräber geht auf die Gründungszeit des Friedhofs zurück. Die prominenten Toten sollten die Attraktivität des am Stadtrand gelegenen Friedhofs steigern, auf dem anfangs niemand beerdigt werden mochte.
Der Plan ging auf; der Friedhof wurde zur beliebten letzten Ruhestätte. Und nicht nur die Toten, auch die Lebenden fühlen sich angezogen von den Grabstätten der Prominenz. Zu den besonders gefragten Gräbern gehört die letzte Ruhestätte von Udo Jürgens, ein weiß verhüllter Flügel, die Asche des 2014 verstorbenen Sängers in der Mitte eingelassen – angeblich, weil er auf keinen Fall unter die Erde kommen wollte.
An mehr oder weniger skurrilen Geschichten über die Toten und Lebenden herrscht kein Mangel. Da ist das Grab der Erfinderin der ersten Einbauküche oder das der ersten Weltreisenden Österreichs. Oder die Gruft mit 99 Urnenplätzen, die ein Japaner reservieren ließ: für Beethoven-Fans, die ihre letzte Ruhe in der Nähe des großen Komponisten finden wollen.