Zeit ist relativ. Das gilt im Fußball allemal. Ein Besuch bei den Videoschiedsrichtern der Bundesliga zeigt, dass sich sechs Minuten gar nicht so lang anfühlen.
Robert Kampka hat fünf Bildschirme gleichzeitig im Blick. Alle zeigen das Zweitligaspiel Schalke gegen Paderborn aus verschiedenen Blickwinkeln. “Noch mal, noch mal, das will ich sehen”, sagt der Videoschiedsrichter zu seinem Kollegen rechts neben ihm. Der “Operator” sucht die verlangte Szene, die beste Perspektive. Auf Schalke kann er aus 25 Kameras auswählen und sie auf Kampkas Bildschirme übertragen. “Wo ist der Kontakt?”, fragt Kampka seinen Schiedsrichterassistenten Henrik Bramlage links neben ihm.
Freitagabend, zweite Fußballbundesliga, Spitzenspiel. Gewinnen die Gelsenkirchener, steigen sie auf Platz eins der Tabelle auf. Kampka weiß, dass es jetzt schnell gehen muss. Achte Spielminute. Der Schiedsrichter auf dem Feld, Tobias Reichel, hat eben ein Foul vor Paderborns Tor gepfiffen. Elfmeter für Schalke? Zuerst prüfen die Video Assistant Referees (VAR) im berüchtigten “Kölner Keller” die Szene. Tatsächlich sitzen Kampka und sein Team ein Stockwerk unter der Erde im Kölner Stadtteil Deutz. Über ihnen logiert der Privatsender RTL.
“Mach noch mal zurück”, weist Kampka den “Operator” an. “Hier! Da ist der Kontakt!” Im Stadion tickt die Uhr. Die Fans pfeifen. Mit jeder Sekunde steigt die Spannung – auch im Keller. Kampka hat jetzt eine Kameraeinstellung mit guter Sicht auf die Szene. Zeitlupe. Zurückspulen, Vorspulen. Es ist eindeutig: Paderborns Verteidiger Calvin Brackelmann berührt Schalkes Stürmer Moussa Sylla mit dem Fuß – außerhalb des Strafraums. Beide geraten ins Straucheln. Innerhalb des Strafraums schiebt der Paderborner den Schalker mit der Hand, schließlich liegt Sylla am Boden.
Ein Foul. Aber ist es auch ein Elfmeter? “Tobias, hast du wegen Fußkontakts entschieden oder wegen Schiebens?”, fragt Kampka über sein Headset den Schiedsrichter auf dem Platz. Reichel ist zur Seitenlinie gelaufen. Die VARs zeigen ihm die relevanten Aufnahmen auf dem Monitor. Die Fans singen, der Keller hat Probleme mit dem Ton. Kampka muss seine Frage wiederholen. Und Reichel muss zwei Situationen bewerten: den Fußkontakt und das Schieben.
Schließlich die Entscheidung: Der Fußkontakt außerhalb des Strafraums war maßgeblich dafür, dass Sylla gefallen ist. Kein Elfmeter. Stattdessen zeigt Reichel Brackelmann die Gelbe Karte. Freistoß für Schalke. Das Spiel geht weiter.
“Wie lange?”, fragt Kampka seinen Assistenten. “Sechs Minuten”, antwortet Bramlage. Kampka stutzt nur kurz. Sechs Minuten vom Abpfiff bis Schalke den Freistoß ausführt. Sechs Minuten fühlen sich im Stadion wie eine Ewigkeit an. Doch Kampka hat keine Zeit, darüber nachzudenken. Das Spiel geht weiter. Und das Team im Keller muss im wahrsten Sinne des Wortes am Ball bleiben. Ecke, Handspiel, Abseitstor – jede Situation wird überprüft. Eingreifen darf der VAR aber nur in bestimmten Fällen, etwa wenn ein Strafstoß zu Unrecht gegeben wurde.
Sieben Minuten Nachspielzeit. Dann: Halbzeitpause. Assistent Bramlage geht auf seinen Kollegen vom Presseteam zu. Er will wissen, wie das Spiel bislang kommentiert wird. Während sich die beiden unterhalten, hat Kampka Zeit für ein Gespräch – zumindest ein paar Minuten. Trotz des ständigen Zeitdrucks strahlt der 43-Jährige Ruhe und Selbstsicherheit aus. Er hört genau zu, antwortet ohne zu stocken und druckreif, erlaubt sich einen kleinen Scherz über sein Alter. Seit 22 Jahren ist Kampka Schiedsrichter auf DFB-Ebene. 35 Erstliga- und 137 Zweitligaspiele hat er schon gepfiffen.
An diesem Freitagabend geht es um sechs Minuten. “Da habe ich erst einmal durchgeschnauft und gedacht: Oh, das ist echt lang”, räumt er ohne Umschweife ein. “Aber ich glaube, wir haben das sauber gemacht.” Die Situation müsse er schnell abhaken. Die Erfahrung helfe ihm dabei. “Einfach auch zu wissen, ich brauche nicht in der Szene drin hängen, das bringt sowieso nichts. Ich muss mich jetzt auf das konzentrieren, was kommt.” Früher sei ihm das schwerer gefallen – vor allem als Schiedsrichter auf dem Feld.
Auch als VAR gebe es Spiele, die ihm einiges abverlangten. “Da gehe ich schon manchmal mit Schweißrändern nach Hause”, sagt Kampka. Vor allem weil er weiß, dass der Videobeweis nicht gerade beliebt ist. Auch er kennt den Fangesang “Ihr macht unseren Fußball kaputt”. Die Kritik, dass die VAR-Unterbrechungen den Spielfluss störten. Die Beschwerden, dass zum Fußball der Zufall einfach dazugehöre.
“Wenn mal was nicht gut läuft, dann kriegen es gleich alle ab”, sagt Kampka und deutet um sich. Trotzdem nehme er den “Keller” nur selten mit nach Hause. Sein Hauptberuf – er ist Truppenarzt bei der Bundeswehr – und seine Familie böten genug Ausgleich.
Zweite Halbzeit. Die VARs und Operatoren sitzen schon wieder auf ihren hellgrauen Bürostühlen an einem langen Schreibtisch. Der Raum ist spärlich beleuchtet, ein Fenster gibt es im Keller nicht. Das, was die zahlreichen Bildschirme zeigen, steht im Fokus. Ein zweites VAR-Team schaut an einem anderen Schreibtisch das Spiel Hannover 96 gegen Karlsruher SC. Im Raum sind zudem ein technischer Leiter und ein Berater, der den Videoschiedsrichtern nach dem Spiel Tipps für bessere Kommunikation gibt.
In der nächsten Saison ziehen die VARs nach Frankfurt an den DFB-Campus. Dort werden Kampka und seine Kollegen deutlich mehr Platz für ihre Arbeit haben. Der “Kölner Keller” ist also bald Geschichte. Bleiben wird die Kritik am Videobeweis. Und der Zeitdruck. Sechs Minuten sind in Köln genauso lang wie in Frankfurt. Nur im Stadion fühlt es sich anders an.