Frau Bammel, was ist sexualisierte Gewalt? Sie wird definiert als unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten, das die Würde der betroffenen Person verletzt. Das geschieht verbal, nonverbal, aber auch durch tätlichen Übergriff.
Besonders schwerwiegend sind sexualisierte Gewaltfälle gegenüber Minderjährigen und Volljährigen, die sich in Abhängigkeitsverhältnissen befinden, wie etwa Seelsorgebeziehungen. In diesen Fällen gehen wir davon aus, dass es eine körperliche, seelische, geistige, sprachliche Unterlegenheit gibt, die ausgenutzt wird. Die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung der betroffenen Person wird eingeschränkt.
Wie kann es in der Kirche, die per se Menschen schützen möchte, zu sexualisierter Gewalt kommen?
Wenn Menschen zusammen arbeiten, sind Übergriffe nie vollständig auszuschließen: ob in der Schule, im Kindergarten, im Sportverein oder eben in der Kirche. Nur wer nüchtern um diese Gefahr weiß, der macht auch die erforderlichen Schritte, um Menschen vor Verletzungen zu schützen. Grenzverletzungen sind passiert und passieren, bis hin zu Fällen sexualisierter Gewalt. Wo es um Beziehungen geht, brauchen wir eine besondere Vorsicht und eine ebensolche Bewusstseinsbildung. Überall. Unsere Beziehungsarbeit ist Stärke und Schwäche zugleich. Deshalb müssen wir dort Menschen schützen und dafür sorgen, dass Vertrauen nicht hintergangen, sondern gestärkt wird.
Warum braucht es ein Gesetz, um diese selbstverständlich scheinenden Verhaltensweisen durchzusetzen?
Da wo Menschen in Beziehung sind, ist eben nichts selbstverständlich. Wir brauchen eine höchst verbindliche Regelung, weil die Menschen in unserem Verantwortungsbereich zu schützen sind, unbedingt. Das Kirchengesetz bietet die Grundlage zum Schutz durch Intervention, Prävention und Aufarbeitung.
Nimmt das Kirchengesetz die EKD-weit geltenden Regelungen auf?
Das Kirchengesetz lehnt sich eng an die Gewaltschutz-Richtlinie der EKD von Oktober 2019 an. Nur an einigen Stellen berücksichtigen wir EKBO-Besonderheiten. Es ist EKD-weiter Konsens, einheitliche Standards zu schaffen.
Welche Maßnahmen sind in diesem Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt vorgesehen?
Gesetzlich verankert ist beispielsweise die erste unabhängige Anlaufstelle mit einer erfahrenen Fachkraft, das Beratungstelefon. Das ist ein niedrigschwelliges Angebot. Dort erhält man bei einem Verdacht oder im Fall eines Hilferufs eine erste Orientierung. Eine solche telefonische Anlaufstelle gibt es in der EKBO seit 2018. Unabhängig, selbstständig und absolut vertraulich. Das gilt ebenso für die Fachperson, Chris Lange, die eigenständig und unabhängig arbeitet. Auf EKD-Ebene gibt es zudem die unabhängige Beratungsstelle „help“. Das Gesetz sieht auch vor, dass Kirchenkreise jeweils Ansprechpersonen benennen. Das ist in etlichen Kirchenkreisen schon geschehen.
Welche Einrichtungen soll es außerdem geben?
Auf landeskirchlicher Ebene haben wir die Stelle einer Beauftragten zum Schutz vor sexualisierter Gewalt eingerichtet. Diese Beauftragte im Evangelischen Konsistorium, Marion Eckerland, vernetzt und dokumentiert. Sie lotst Betroffene durch die vorhandenen Hilfesysteme. Sie wird die wissenschaftliche Arbeit der Aufarbeitung unterstützen und hält engen Kontakt zu den Einrichtungen der Landeskirche, beispielsweise dem Amt für kirchliche Dienste (AKD). Dort sind vor allem Beratung und Fortbildung mit Blick auf die Prävention angesiedelt. Von dort aus wird ein Netzwerk der Ansprechpersonen aus den Kirchenkreisen gepflegt. Das AKD hat sich dazu in den letzten Jahren eine hohe Kompetenz erworben. Personalanteile sind nun auch verstärkend dafür eingesetzt worden, sodass sich die Studienleiterin Silke Hansen auf diese Arbeit konzentrieren kann.
Außerdem gibt es die Unabhängige Kommission zur individuellen Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt.
Diese Kommission arbeitet unter dem Vorsitz von Marie Anne Subklew-Jeutner. Mit hohem ehrenamtlichem Einsatz arbeitet diese Kommission seit 2019. Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren oder sind, gibt sie die Gelegenheit, in allem Erlittenen gehört und gesehen zu werden sowie eine Anerkennung dessen, was geschah, zu erfahren. EKD-weit wird daran gearbeitet, wie in den Aufgaben der jeweiligen Kommissionen in den Landeskirchen gemeinsame Standards vereinbart werden können.
Die EKD hat einen Betroffenen-Rat gebildet. Gehören zur Unabhängigen Kommission auch betroffene Menschen?
Bei der Gründung 2019 hatte man das noch nicht so im Blick und auch im Kirchengesetz steht das nicht. Aber die Rechtsordnung für die Arbeit der Unabhängigen Kommission soll auch unter dieser Fragestellung überarbeitet werden. Hier gibt es Korrekturbedarf. Ich persönlich finde es richtig, dass Betroffene beteiligt werden, auch in der Unabhängigen Kommission. Entscheiden wird das die Kirchenleitung.
Wird sich die EKBO an einer Studie zur Aufarbeitung der Fälle sexualisierter Gewalt beteiligen?
Natürlich. Wir sind Teil der umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitungsstudie der EKD, ein Meta-Projekt plus fünf Regionalstudien. Wir gehören zum Regionalverbund A Ost.
Was ist genau geplant?
Die Aufarbeitungsstudie ist auf drei Jahre angelegt. Sie wird durch verschiedene Universitäten unterstützt, zum Beispiel durch die Universitäten Hamburg und Hannover. Unabhängige Wissenschaftler*innen werden recherchieren und vermutlich auch Personalakten einsehen. Wir stehen als Ansprechpartner zur Verfügung, um sie regional zu unterstützen. Das konkrete Verfahren ist noch nicht vollständig abgestimmt. Da sind etwa auch Fragen des Datenschutzes zu klären.
Wie viele Fälle von sexualisierter Gewalt gibt es in der EKBO?
Ich kann schwerlich von „Fällen“ sprechen. Es geht ja um Menschen, um traumatisierende Ereignisse. In der Unabhängigen Kommission sind seit 2019 zehn Menschen gehört worden. In den vergangenen 30 Jahren seit der Einheit der Kirche wurden die Fälle nicht so dokumentiert, wie wir uns das heute nach wissenschaftlichen Standards vorstellen. Deshalb wird künftig die Dokumentation anders erfolgen. Nach jetzigem Wissensstand sind seit 1990 dreimal strafrechtliche und fünfmal disziplinarrechtliche Schritte eingeleitet worden. Es gibt derzeit kein strafrechtlich anhängiges Verfahren dazu, auch kein offenes Disziplinarverfahren.
Welche Mitarbeitenden müssen ein Führungszeugnis vorlegen?
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Kirchengemeinden in ihren Schutzkonzepten Regelungen zur Vorlage von erweiterten Führungszeugnissen treffen. Dabei soll nicht nur festgelegt werden, wer ein erweitertes Führungszeugnis vorzulegen hat, sondern auch in welchen Abständen eine erneute Anforderung erfolgt. Bei Ehrenamtlichen wird dies davon abhängen, wie intensiv und dauerhaft sie mit Jugendlichen und schutzbefohlenen Erwachsenen haben.
Mit welchem Ziel sollen Landeskirche und Kirchenkreise eigene Schutzkonzepte erarbeiten?
Das Kirchengesetz beschreibt, was in einem Schutzkonzept enthalten sein muss. Dazu wird auch eine eigene Rechtsverordnung erlassen. Es geht vor allem um die Schritte zur Intervention, welche Maßnahmen zu welchem Zeitpunkt nach welchen Klärungen greifen. Außerdem Verabredungen zu verpflichtenden Fortbildungen, Ansprechpartnern, ein Verhaltenskodex. Schutzkonzepte sind die konkrete Brücke in die Praxis hinein. Schon ihre Erarbeitung ist ein Lernprozess und erhöht die Sensibilisierung.
Braucht zum Beispiel eine Kindergottesdienstmitarbeiterin ein Führungszeugnis?
Ja, wenn jemand regelmäßig Kindergottesdienst mit Kindern feiert, gehört ein Führungszeugnis selbstverständlich dazu.
Bei einem Vermerk über eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung muss eine Gemeindeleitung reagieren?
Natürlich. Damit jeder weiß, was er zu tun hat, gibt es die Fortbildungspflicht. Das Kirchengesetz sagt in Paragraf 5: Wenn jemand straffällig auffällig geworden ist, ist das ein Tätigkeitsausschluss. Auch ein ehrenamtlicher Dienst ist dann nicht mehr möglich.
Im Kirchengesetz sind keine Entschädigungsleistungen geregelt.
Das Kirchengesetz sieht das nicht vor, aber die Rechtsordnung für die Unabhängige Kommission zur individuellen Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt. Die Anerkennung des erlittenen Unrechts kann auch in finanzieller Form gezeigt werden. Zusätzlich können Therapiekosten übernommen werden. Mit unserer gegenwärtigen Ordnung sind wir mit Blick auf die Leistungshöhe aber nicht zufrieden. Die finanziellen Unterstützungs- und Anerkennungsleistungen werden derzeit EKD-weit durch die Verantwortungsträger miteinander beraten. Denn hier besteht Überarbeitungsbedarf. Auch das wollen wir EKD-weit möglichst gut abgestimmt formulieren.
Johannes-Wilhelm Röhrig, der Beauftragte der Bundesregierung zum Schutz vor sexuellem Missbrauch, warf den Kirchen vor, die Aufarbeitung dauere zu lange. Wie sehen Sie das?
Ich kann das aus Sicht der Betroffenen nachvollziehen, wenn diese schon lange mit ihrem Leid leben mussten und weitere Untersuchungen und Aufklärungen erwarten. Gleichzeitig sehe ich, welche Sorgfalt es braucht und damit Zeit eine solche wissenschaftliche Aufarbeitungsstudie vorzubereiten und sie EKD-weit abzustimmen. Ich denke, das wird der Beauftragte der Bundesregierung differenziert einschätzen, dass wir als Evangelische Kirche bereits wesentliche Schritte der für uns alle unverzichtbaren Maßnahmen vorgenommen haben und weiter vornehmen werden, ohne Zeit zu vertun.