Jeden Dienstag herrscht vor der Nürnberger Straßenambulanz „Franz von Assisi“ ein klein wenig mehr Betrieb. Vor der Einrichtung der Caritas in einem imposanten Ziegelbau des ehemaligen Franziskanerklosters St. Ludwig stehen kleine Menschengruppen, es wird geraucht. Kurz vor zehn Uhr sammelt Bernhard Nuss Woche für Woche diejenigen ein, die mit ihm zum Lauftraining wollen. So auch an diesem sommerlichen Tag im Mai.
Mit dabei ist der 50-jährige Merry aus Eritrea, der seit 18 Jahren in Deutschland lebt. „Ich bin wegen meiner Gesundheit dabei“, sagt er. „Das Lauftraining ist für mich kein Stress.“ Zuletzt arbeitete er als Betreuungskraft, momentan ist er arbeitslos. Seit letztem Sommer ist Merry bei der Laufgruppe dabei und hat, berichtet er nicht ohne Stolz, von Initiator Nuss eigene Laufschuhe bekommen. „Das war eine Motivation.“ Nuss sagt: „Wer dreimal mitläuft, bekommt von mir eigene Laufschuhe“.
Der heutige Personal-Trainer und Motivations-Redner ist sich sicher, „Sport sorgt für einen freien Kopf.“ Der gebürtige Unterfranke weiß, wovon er redet. Auch wenn seine sportliche Laufbahn erst mit 40 Jahren begann, kann sich die Bilanz des Extremsportlers und Ultratriathleten sehen lassen. Ein Highlight, das ihm den Beinamen „Eiserner Franke“ eingebracht hat, war im Jahr 2019. Der 64-jährige Wahl-Nürnberger absolvierte 66 Langdistanz-Triathlons mit Laufen, Schwimmen und Radfahren und stellte damit einen Weltrekord auf.
„Ich habe gelernt, am Boden zu liegen und wieder aufzustehen.“ Der „Eiserne Franke“ hat sich gewissermaßen selbst zurück ins Leben gekämpft. Mit 30 Jahren wäre der Versicherungsvertreter beinahe innerlich verblutet, es sei eine Nahtoderfahrung gewesen. Danach krempelt er sein Leben komplett um und beginnt zunächst mit dem Fahrradfahren. Dann entscheidet er sich: „Ab heute verkaufe ich keine Versicherungen mehr, sondern Gesundheit.“
Er sucht sich Sponsoren, trainiert Büroarbeiter zu Marathonläufern und gründet den Sportverein „Never Walk Alone Nürnberg“. Außerdem möchte er den Sport zur Gewaltprävention einsetzen. Als Partner des Amtes für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg starten Nuss und die Vereinsmitglieder bei Lauf-Veranstaltungen in Partnerstädten wie Nizza, Antalya, Prag und Gera. Er entdeckt seine soziale Ader. Zum Lauf in Nizza nimmt er einen Teilnehmer aus der Straßenambulanz mit.
Nuss trabt diesmal mit vier Läufern in der Gartenstadt Richtung Kanal. Ihm geht es hier nicht um Höchstleistung. „Ich bin ein Missionar für Sport und Bewegung.“ Für seine Idee vom inklusiven Sport hat der Franke eigene Sponsoren gewonnen, ohne deren finanzielle Unterstützung die Laufgruppe nicht möglich wäre.
Ganz einfach war es nicht, das Angebot zu installieren. Auf seine ausgehängten Zettel in der Straßenambulanz gab es zunächst keine Reaktion. Erst als er dort Besucher direkt ansprach, konnte er Interessenten gewinnen und loslegen. Mal sind es größere Gruppen, mal kleine. Bei schlechtem Wetter geht er mit seinen Sportlern ins Fitnessstudio aufs Laufband oder ans Rudergerät zum Krafttraining. „Jeder trägt irgendwie sein Päckchen mit sich rum, aber Sport macht ihnen riesig Spaß“, beobachtet er.
Merry hat über den Tagestreff für Wohnungs- und Obdachlose Abdul aus Pakistan kennengelernt und ihn zum Mitmachen motiviert. Abdul ist seit zwei Jahren in Deutschland, ohne Familie, Kontakt in die Heimat hat er nicht. Zuletzt hat er als Pizzafahrer gejobbt, doch das war nach einem Unfall vorbei. Ohne Arbeit und ohne Wohnung fällt ihm sein Alltag derzeit schwer.
Leonat aus Griechenland mit einem erfolgreich abgeschlossenem Wirtschaftsstudium an einer griechischen Uni ist erst ein paar Wochen in Nürnberg. „Ich will hier ein besseres Leben führen“, sagt er. Zurzeit suche er einen Job, denn er wolle Freunde auch mal auf ein Getränk einladen. Jana läuft zum dritten Mal mit. Sie ist still, hat Kopfhörer auf, aber freut sich schon auf die Laufschuhe.
Roland Stubenvoll, Leiter der Straßenambulanz, war am Anfang skeptisch, ob der „Eiserne Franke“ tatsächlich mit den Besuchern des Tagestreffs eine Gruppe zusammenbekommt. „Die größte Herausforderung ist es, unsere Klientel überhaupt zum Sport zu motivieren.“ Und dann sei es nicht mit einem Lauf getan, fitter werde man nur, wenn man öfter dabei sei. Stubenvoll sieht noch eine weitere Hürde: „Für Wohnungslose ist der innere Schweinehund größer.“