Henriette Kretz überlebte als Kind den Holocaust. Studierenden erzählt sie davon – und davon, wie sie ihre Eltern verlor und was mit ihren Rettern passierte.
“Von der Flucht erinnere ich mich nur an brennende Städte. Ich erinnere mich, dass der Himmel ganz rot war.” Die heute 89-jährige Henriette Kretz ist Gast der Evangelischen Studierendengemeinde Bonn. Als der Zweite Weltkrieg begann, war sie viereinhalb Jahre alt. Heute erzählt sie von ihrem Leben als junges Mädchen. Zum Beispiel davon, wie ihre Familie 1939 aus der Nähe von Warschau in sowjetisch kontrolliertes Gebiet floh. Betroffene Gesichter und völlige Stille im Raum zwei Stunden lang, in denen Kretz spricht.
Sie möchte junge Menschen sensibilisieren: “Was ist der Unterschied zwischen euch hier und Jugendlichen in anderen Ländern? Wir haben doch alle dieselbe Nase, wir wollen alle dasselbe. Und wenn Menschen fliehen, haben sie einen guten Grund zu fliehen. Es ist nicht leicht, ein Land zu verlassen.” Oft musste Henriette Kretz als Kind den Lebensmittelpunkt verändern, sich verstecken, war getrennt von ihren Eltern, war im Gefängnis.
Im Juni 1941 hatte das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion angegriffen. Für Kretz veränderte sich dadurch wie für viele andere Jüdinnen und Juden ihr Leben. “Ich konnte nicht mehr in die Schule gehen, weil ich Jüdin war.” Bis dahin habe sie gar nicht gewusst, was das eigentlich ist.
1943 lebte sie mit ihren Eltern im Ghetto der Stadt Sambor. Eines Tages sei die Rede von dessen kompletter “Räumung” gewesen, es sollten also alle in ein Vernichtungslager deportiert werden. Ein ehemaliger Kollege ihres Vaters konnte der Familie helfen. Er versteckte sie beim Ehepaar Patralski. “Wir saßen den ganzen Winter im engen, feuchten Kohlenkeller im Dunkeln. Ich wusste, dass Tag war, wenn Herr Patralski mit Essen kam”, berichtet sie über die Zeit, als sie acht Jahre alt war.
Im Frühling habe Herr Patralski dann gesagt, die Familie könne jetzt auf den Dachboden ziehen, weil es nun warm genug dafür sei. “Wir waren so dankbar, wir hatten Platz, wir konnten sehen. Als ich meine Eltern da zum ersten Mal sah, habe ich mich aber erschrocken.” So sehr seien sie gealtert gewesen.
Im Sommer wurden Henriette und ihre Eltern auf dem Dachboden von Soldaten entdeckt. Sie trieben die Familie aus dem Haus. Auf der Straße habe das Ehepaar Patralski gestanden, zwei Soldaten um sie herum. “Später habe ich erfahren, man hat sie erschossen”, sagt Kretz. Ihre Eltern und sie sollten deportiert werden. Unterwegs verlor ihr Vater die Kontrolle: “Ich habe genug gelitten, wenn Sie mich töten wollen, erschießen Sie mich hier”, habe er gesagt. “Ich hörte gewaltiges Geschrei. Mein Vater schrie: ,Lauf!’ Ich dachte nicht an meine Eltern, ich rannte. Und dann hörte ich Schüsse, dann hörte ich meine Mutter schreien, dann hörte ich wieder Schüsse, dann hörte ich nichts mehr. Und dann wusste ich, dass ich keine Eltern mehr hatte.”
Henriette Kretz erinnerte sich damals an das Waisenhaus eines Ordens, dem ihr Vater vertraut hatte. “Zu dem musste ich durch die ganze Stadt gehen. Ich habe mich gefühlt wie ein Mensch von einem anderen Planeten. Ich wusste nicht, wer ist ein Freund und wer ist ein Feind.” Die Ordensschwestern des Waisenhauses nahmen das Mädchen auf. Sie versteckten noch weitere verfolgte Kinder. So überlebte Henriette Kretz – neben einem Onkel als einzige der Großfamilie – den Holocaust. “Für mich sind die Menschen Helden, die andere versteckten und geschützt haben. Sie waren nicht viele damals, aber Helden sind nie viele”, sagt die heute fast 90-Jährige mit Jeans, weißen Turnschuhen und frühlingsgrüner Strickjacke.
Als der Zweite Weltkrieg begann, sei sie ein “ganz normales Kind, so wie viele Millionen andere” gewesen. Seit Jahrzehnten erzählt Henriette Kretz Jugendlichen und jungen Erwachsenen in mehreren europäischen Ländern von ihrer Kindheit – anschaulich, drastisch, bisweilen aber auch humorvoll. “Die Geschichte, die ich erzähle, ist keine besondere. Es ist die Geschichte aller jüdischen und aller Sinti und Roma-Kinder. Sie waren alle zum Tode verurteilt.”
Jemand fragt, wie man weiterleben kann nach solchen Erlebnissen. “Der Mensch ist viel stärker, als er denkt”, antwortet die zarte Dame. Viele Menschen hätten durch den Krieg Traumata erlitten. “Die Narben bleiben, aber die Menschen leben weiter. Man hat ja keine andere Wahl.” Ihr Leben nach dem Krieg verbrachte sie zum Großteil im belgischen Antwerpen, aber auch 13 Jahre lang als Lehrerin in Israel.