Naturschutz ist kein Luxus. Wenn Tier- und Pflanzenarten verschwinden und Böden degenerieren, leidet mittelfristig auch der Mensch. Wissenschaftler zeigen, wie es um die biologische Vielfalt in Deutschland bestellt ist.
Selbst verheerende Wirbelstürme wie Kyrill und der Borkenkäfer können etwas Positives haben. Durch sie hat sich in den vergangenen Jahren die Menge an Totholz in deutschen Wäldern so stark vergrößert, dass Insekten und Vögel, die Insekten fressen, deutlich bessere Lebensbedingungen vorfinden. Auch der Anteil von Mischwäldern ist leicht gestiegen. Der deutsche Wald ist – zumindest teilweise – vielfältiger geworden.
Solch gute Nachrichten gibt es im “Faktencheck Artenvielfalt” nicht allzu viele. Auf mehr als 1.000 Seiten haben rund 140 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das vorhandene Wissen über die biologische Vielfalt in der Bundesrepublik erstmals zusammengetragen. Der Tenor des am Montagabend veröffentlichten Berichts ist einhellig: Trotz einiger positiver Entwicklungen ist die Situation insgesamt angespannt. Viele Lebensräume sind bedroht oder verschlechtern sich. Und in der Folge nimmt die Vielfalt bei Tieren, Pflanzen und Pilzen ab.
Wer im Alltag genau hinschaut, merkt es auch ohne Studien: Klebten früher nach langen Fahrten an der Windschutzscheibe des Autos unzählige tote Insekten, so bleiben die Scheiben mittlerweile ziemlich sauber. 2017 hat die “Krefelder Insektenstudie” bestätigt, dass es bei Insekten in Deutschland drastische Bestandseinbrüche von bis zu 80 Prozent gibt.
Solche Einzelstudien, oft von Ehrenamtlichen durchgeführt, gibt es viele in Deutschland. In kaum einem Land werde so viel zur biologischen Vielfalt geforscht, schreiben die Autoren. Um so schwerer wiegt, dass es “für eine unserer wichtigsten Ressourcen kein repräsentatives behördliches Langzeitmonitoring gibt”, sagt der Leipziger Pflanzenökologe Christian Wirth.
Der “Faktencheck Artenvielfalt” soll dem entgegenwirken. Dazu wurden über 6.000 Publikationen und 15.000 Zeitreihen ausgewertet und der Zustand der Hauptlebensräume Agrar- und Offenland, Wald, Binnengewässer und Auen, Küsten und Küstengewässer, Böden und urbane Räume beschrieben.
Das Ergebnis: Es gibt viele Verlierer und nur wenige Gewinner. Insgesamt 60 Prozent der 93 wissenschaftlich definierten Lebensraumtypen zeigen einen unzureichenden oder schlechten Erhaltungszustand und rückläufige Entwicklungstendenzen. Besonders besorgniserregend: die Situation im Grünland, also auf ehemals artenreichen Äckern, in Mooren, Moorwäldern und Sümpfen.
Das hat Folgen auch für die Tier- und Pflanzenwelt: Nicht nur bei Feldvögeln, Schmetterlingen und Hummeln gehen die Bestände stark zurück. Gewinner sind manche Waldvögel, Libellen- und Bienenarten. Und eingewanderte Arten, von denen noch nicht klar ist, ob sie bereichern oder zerstören. Von den etwa 72.000 in Deutschland einheimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang etwa 40 Prozent auf die Gefährdung ihrer Populationen hin untersucht. Fast ein Drittel von ihnen ist bestandsgefährdet, das heißt, vom Aussterben bedroht oder stark gefährdet; etwa 3 Prozent gelten bereits als ausgestorben.
Ist eine Trendwende möglich? Rechtlich ist Deutschland wie viele andere Länder verpflichtet, die Natur besser zu schützen. Bei der UN-Biodiversitätskonferenz in Montreal wurde 2022 vereinbart, bis 2030 weltweit 30 Prozent der Landes- und Meeresfläche unter Naturschutz zu stellen.
Dass solche Beschlüsse ausreichen, glaubt der Co-Leiter des Faktenchecks, der Wittenberger Biologe Helge Bruelheide, nicht. Es gebe unzählige politische Instrumente für mehr Biodiversität, etwa die gemeinsame EU-Agrarpolitik, Richtlinien für Wasserschutz, Vogelschutz und die Meeresstrategie-Richtlinie. “Nur sind diese Instrumente nicht unbedingt gut aufeinander abgestimmt.”
Entscheidend ist nach Ansicht der Autoren des Faktenchecks, dass der Naturschutz neu gedacht wird. Die Botschaft der Wissenschaftler lautet: “Es lohnt sich, sich zu engagieren zum Schutz der biologischen Vielfalt.” Am vielversprechendsten sei die Extensivierung der Land-, Gewässer- und Meeresnutzung, betonen sie. Wirtschaft, Waldbesitzer, Landwirte und Fischerei müssten – schon aus eigenem Interesse – neue Formen des Wirtschaftens entwickeln, die Ökonomie und Ökologie miteinander verbinden.
Voraussetzung für einen Wandel ist nach Einschätzung der Autoren auch, dass Bürger die Bedeutung von biologischer Vielfalt vermittelt bekommen und selbst erleben. Es brauche Kümmerer vor Ort. So betont die Frankfurter Geoökologin Marion Mehring, dass die Gartenfläche in Deutschland in etwa auch der Fläche der Naturschutzgebiete gleichkomme. Jeder könne deshalb durch naturnahere Gestaltung seines Gartens Einfluss auf die Artenvielfalt nehmen.