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Ruhepol mit Wow-Effekt – Warum uns Sonnenuntergänge so faszinieren

Ein Sonnenuntergang wie gemalt: Am Ufer von Usedom verschmilzt Natur mit Emotion. Warum das Abendlicht Menschen weltweit berührt – und sogar Stress senken kann.

Sonnenuntergang am Ufer bei Ückeritz auf Usedom – ein Farbfeuerwerk aus Königsblau, Rosa und Orange, das Ruhe und Ergriffenheit schenkt
Sonnenuntergang am Ufer bei Ückeritz auf Usedom – ein Farbfeuerwerk aus Königsblau, Rosa und Orange, das Ruhe und Ergriffenheit schenktAnja Krcek

Diesmal verabschiedet sich der Tag besonders spektakulär. Das Ufer bei Ückeritz an der Surfbude auf Usedom gehört ohnehin zu den Sunset-Hotspots an der Ostsee. Aber an diesem Abend versinkt die Sonne mit einem Farbfeuerwerk wie auf einem Gemälde: oben Königsblau, darunter schweben Wolkenfetzen, in Rosa getaucht, begleitet von zartem Zitronengelb, Apricot und einem kräftigen Orange, schließlich ein Nachtblau. Mittendrin ein Schwan, der sich langsam ins Bild schiebt.

„Der weite Blick, ein friedlicher Ort“, schwärmt Anja Krcek, die – natürlich – wie so viele neben ihr ein Foto macht. Sie kommt aus dem fränkischen Bamberg und besucht regelmäßig die Insel im Nordosten Deutschlands an der Grenze zu Polen. Die Sonnenuntergänge am Achterwasser seien für sie Höhepunkte, sagt sie. „Da kann ich zur Ruhe kommen, Rückschau auf den Tag halten, verbunden auch mit Zuversicht und Neubeginn.“

Faszination Sonnenuntergang

Überall auf der Welt begeistere der Sonnenuntergang Menschen, sagt der Leiter des Bremer Olbers-Planetariums, Andreas Vogel. „Wir sind wie alle Lebewesen ganz eng an die Sonne gebunden, sie ist der Taktgeber der Biologie“, erklärt der Physiker, der sich intensiv mit den Planeten und dem Weltraum beschäftigt. Der Sonnenuntergang markiere das Zur-Ruhe-Kommen, den Übergang in die Nacht. „Mensch und Natur“, betont er, „brauchen die Nacht, um gesund zu bleiben“.

Ein Ruhepol mit Wow-Effekt. Das zumindest belegt eine Studie, die 2023 im „Journal of Environmental Psychology“ veröffentlicht wurde. Für die Untersuchung schauten sich 2.500 Probanden dreidimensionale Animationen unterschiedlicher Naturphänomene an und kamen zu dem Schluss: Gewitter und Regenbögen sind beeindruckend. Aber Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge steigern das Gefühl von Ehrfurcht und Schönheit am meisten.

Ruhepol mit Wow-Effekt

„Wir sind ja Kinder der Natur – naturphilosophisch gesprochen sind wir aus Sternenstaub gemacht und im Sonnenlicht gereift“, formuliert es der Berliner Biopsychologe Peter Walschburger. „Und in einem Moment wie dem Sonnenuntergang geraten wir leicht in einen Zustand der Ergriffenheit, in dem uns die Welt wie verwandelt erscheint. Viele fühlen sich verzaubert, aufgehoben, sicher, beheimatet, eins mit der Natur.“

Das habe archaische Wurzeln, die Sonne sei uns eben schon immer vertraut. „Und was uns so intim vertraut ist“, meint der emeritierte Wissenschaftler, „erscheint uns auch schön und wird zur Grundlage gemeinschaftsstiftender Rituale.“ Viele verabredeten sich, um den Sonnenuntergang zu genießen und danach vielleicht miteinander noch etwas zu essen: „Das alles macht die Magie aus.“

Millionenfach fotografiert

Menschen halten vor der sinkenden Sonne am glitzernden Meer oder in den Bergen inne, sind berührt, sinnieren, fotografieren, täglich millionenfach. Selbst in der Bibel werden Sonnenuntergänge erwähnt. Filmszenen, Postkarten und berühmte Gemälde zeigen, wie sehr Menschen der Sonnenuntergang begeistert: das Licht weich und warm, die Stimmung romantisch.

„Die Faszination hat viel mit den Farben zu tun“, erläutert Vogel, der als Hochschuldozent angehenden Nautikern beibringt, wie ein Schiff nach dem Stand der Sterne gesteuert werden kann. „Je tiefer am Abend die Sonne steht, desto mehr rötliches Licht kommt bei uns an, das blaue wird in der Atmosphäre gestreut. Wir sehen dann wärmeres Licht, das uns fröhlich stimmt.“ Während kältere Lichtfarben tagsüber die Leistungsfähigkeit steigerten, reduziere das rötliche Licht den Stress. „Das Schlafhormon Melatonin wird gebildet, wir kommen langsam runter.“

Luftverschmutzung als Problem

Besonders schöne Sonnenuntergänge haben Vogel zufolge übrigens nichts mit klarer Luft zu tun, ganz im Gegenteil. „Die Luftverschmutzung verstärkt die Farben am Himmel, weil die Sonnenstrahlen durch mehr Aerosole öfter gestreut werden.“ So wurde Vogel zufolge beim Vulkanausbruch des Pinatubo 1991 auf den Philippinen eine riesige Menge Asche und Schwefeldioxid in die Stratosphäre geschleudert, was zu spektakulären Sonnenuntergangs-Szenarien geführt hat.

Wobei der Begriff Sonnenuntergang genau genommen einen Vorgang beschreibt, den es gar nicht gibt. Gott sei Dank, möchte man sagen. Denn die Sonne geht ja nicht unter, es ist allein die Drehung der Erde, die den Tag zur Nacht werden lässt. Planetariumschef Vogel erklärt, dass es in Jahrmilliarden einen einzigen finalen Untergang geben wird, wenn sich die Sonne zum Roten Riesen aufbläht. Und am Ende als Weißer Zwerg stirbt.