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Rückschritt gegenüber westfälischem Papier

UK 30/2016, EKD-Reformpapier „Kirche der Freiheit“ (Seite 1: „Mund zu Mund“, Seite 11: „Zehn Jahre große Freiheit“)
Interessant wäre es gewesen, wenn eine ähnliche Bilanz bezüglich der wenige Jahre zuvor erschienenen Schrift der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) „Kirche mit Zukunft“ vorgelegen hätte. In erstaunlicher Frische hatte sich dort noch unter Altpräses Manfred Sorg die EKvW dieser Thematik angenommen und viel konkreter die Probleme beim Namen genannt, um die es in unserer evangelischen Kirche geht. Es lohnt sich einfach angesichts der Dringlichkeit der Thematik, diese Schrift der EKvW aus dem Jahr 2000 erneut zum Vergleich heranzuziehen.
Dort liest man in viel konkreterer Form, dass wir kleingläubig und in vorauseilender Skepsis viel zu lange als unveränderbar angesehen haben, dass die Akzeptanz der Kirche weiter schwindet, der Traditionsabbruch weiter um sich greift und sich die Kirchenaustritte auf hohem Niveau weiter stabilisieren. Und dann heißt es: Wir müssen unsere eigene Botschaft wieder ernst nehmen und in der Öffentlichkeit vertreten und auf die Durchsetzungskraft des Evangeliums vertrauen.
Die kirchliche Arbeit weist inzwischen ein großes Veranstaltungsspektrum auf – mit häufig parallelen Strukturen und einem oft unverbindlichen Erscheinungsbild. Es geht nicht so weiter, dass alle flächendeckend alles machen. Kirchliche Arbeit soll sich weiter in großer Freiheit vollziehen. Aber so begrüßenswert das ist, so hat es auch eine Kehrseite. Unüberprüfbare Beliebigkeit und persönliche Neigungen bestimmen oft die Arbeit. Es gibt zu viele Menschen in der Kirche, die ohne Überprüfung das machen, was sie wollen. Wir brauchen in Zukunft viel mehr als bisher Zielorientierung in der kirchlichen Arbeit, die auch Formen der Überprüfung beinhaltet.
Es folgt ein Aufruf als Hinweis auf das Wesen und den Auftrag unserer Kirche: der Missionsauftrag aus Matthäus 28, 18-20.
Und nun die Ermahnung, konkreter geht es nicht: Auf den Pro-zess gesellschaftlicher Säkularisierung hat die evangelische Kirche in hohem Umfang mit einem Prozess der Selbstsäkularisierung geantwortet (Wolfgang Huber). Die ethischen Forderungen der Religion wurden zum dominierenden Thema, die Gottesfrage und die Begegnung mit dem Heiligen trat dagegen in den Hintergrund. Häufig genug wurde die kirchliche Arbeit als Dienstleistung an der säkular gewordenen Gesellschaft verstanden – ohne missionarische Absichten. So lebt die Kirche heute weitgehend von der Abwärme einer Energiequelle, für deren Fortbestand sie nicht hinreichend sorgt.
Und weiter: Viele Menschen fühlen sich vom pluralen Erscheinungsbild der Kirche nicht mehr angesprochen. Aus der liebenswerten bunten Vielfalt ist die Profillosigkeit geworden, und oft ist es nicht mehr erkennbar, wofür wir mit diesen Angeboten der Kirche eigentlich stehen. Die Analysen der EKvW vom Anfang dieses Jahrhunderts sind sehr viel klarer, engagierter und zielorientierter als die dann folgenden Vorschläge im Reformpapier der EKD.
Es ist ausgesprochen bedauerlich, dass die nach Altpräses Sorg folgende Leitung der westfälischen Landeskirche so wenig und kaum wahrnehmbar auf die Zielorientierungen der „Kirche mit Zukunft“ einging. Wir haben das in der Männerarbeit vor Ort immer bedauert. Die „Kirche der Freiheit“ konnten wir jedenfalls gegenüber den damaligen Intentionen der EKvW nur als nivellierenden Rückschritt betrachten.

Gerhard Gräwe, Unna