Der kleine Schuh passt in Tims Hand. „Das Kind, das ihn trug, war vielleicht nur ein Jahr alt und machte gerade seine erste Schritte – und das in Auschwitz,“ sagt der Auszubildende aus dem VW-Werk Wolfsburg im Rückblick auf zwei Wochen Arbeit in der Gedenkstätte Auschwitz. Mit 20 anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auto-Konzerns sowie Jugendlichen aus Polen und der Ukraine hat er bei einem Projekt des Konzerns Habseligkeiten von Menschen restauriert, die im Konzentrationslager Auschwitz (Oswiecim) nahe Krakau in Polen ermordet wurden.
„Wir haben den Rost von den winzigen Ösen für die Schnürsenkeln abgekratzt“, erzählt Tim. Erst hier habe er richtig verstanden, welche Verbrechen in dem von NS-Deutschland eingerichteten Vernichtungslager von 1940 bis zu seiner Befreiung am 27. Januar 1945 verübt worden seien. Die gefangenen und ermordeten Kinder tun Tim besonders leid: „Es ist einfach unvorstellbar, was diesen Kindern, diesen Seelen angetan wurde“, sagt er bei einem Nachtreffen der teilnehmenden Azubis in Kassel.
Der VW-Konzern und das Internationale Auschwitz-Komitee ermöglichen es seit mehr als 30 Jahren Auszubildenden – und seit 2018 auch Angestellten und Managern -, zwei Wochen lang in der Gedenkstätte Auschwitz zu arbeiten. Dabei geht es nicht allein um die Vergangenheit, sondern auch um die Zukunft: „Ziel der Nationalsozialisten war es, jeden einzelnen jüdischen Menschen von der Erde zu tilgen,“ sagt der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner. „Alle Angriffe auf Jüdinnen und Juden in deutschen Städten heute setzen diese Haltung fort. Das zu sehen, ist jetzt die Herausforderung.“
Der „Ascheteich“ in dem weitläufigen Gelände des ehemaligen Lagers Auschwitz-Birkenau hat die angehende KfZ-Mechatronikerin Charline besonders bewegt. Auf dem sumpfigen Gelände in der Nähe des Birkenwaldes, der „Birkenau“ seinen Namen gab, bilden sich immer wieder Tümpel. „Hier ist der Boden weich, weil er aus der Asche von Hundertausenden Menschen besteht, vor allem von Jüdinnen und Juden aus Ungarn“ hatte Christoph Heubner erläutert.
„Das war wirklich die Endstation,“ sagt Charline. „Das hat uns alle extrem mitgenommen. Da lag überall Asche, und das sind Überreste von den Menschen gewesen, die dort verbrannt worden sind.“ Sie hat sich vorgenommen, zu Hause, im Betrieb und Freundeskreis davon zu erzählen. „Wir sind alle erschüttert von den Wahlergebnissen rechter Parteien und Deutschland und Europa,“ fügt sie hinzu.
In der Gruppe aus der polnischen Stadt Bielsko-Biala befand sich auch eine Teilnehmerin aus der Ukraine. Natalja war schon vor dem russischen Angriff nach Polen gezogen, weil ihre Mutter dort Arbeit fand. „Ich hatte von Auschwitz gehört, aber in der Schule in der Ukraine haben wir nichts darüber gelernt,“ erzählt sie. Polnische Jugendliche berichten, sie seien zwar in der Nähe des ehemaligen KZ aufgewachsen. Was aber im Einzelnen dort geschah, hätten sie auch erst jetzt bei der Arbeit dort erfahren. Natalja verbindet in Gedanken die Erzählungen von den Verbrechen in Auschwitz mit dem Krieg in ihrer Heimat: „Ich hoffe wirklich, dass das, was in Auschwitz geschehen ist, im Ukraine-Krieg nicht auch passiert. Ich denke immer, so viele Menschen lernen nichts aus der Geschichte – wenn sie lernen würden, könnte das nie wieder passieren.“
Die Berichte vom Schicksal der Juden oder der Sinti und Roma habe die Mitglieder der Gruppe auch angeregt, von schwierigen Zeiten in ihren eigenen Leben zu reden, besonders diejenigen mit Migrationsgeschichte. „Ein junger Mann erzählte, wie er aus Afghanistan 6.000 Kilometer zu Fuß nach Deutschland gegangen ist,“ berichtet der Ausbilder Michael Rissmann aus dem VW-Werk Kassel. Er habe nach den Erfahrungen in Auschwitz mehr Mitgefühl für den jungen Mann empfunden.
„Und er wiederum konnte sich in die Menschen hineinversetzen, die kurz vor der Befreiung des Lagers auf die Todesmärsche geschickt wurden – er war ja auch lange gegangen,“ so Rissmann. Der Ausbilder hält die Arbeit in der Gedenkstätte Auschwitz gerade für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Migrationshintergrund für wichtig. „So können wir hoffentlich Tendenzen zur Radikalisierung eindämmen.“