In Marburgs einziger Fahrradstraße lässt sich an diesem kühlen Frühlingsmorgen kaum ein Radfahrer blicken. Hier haben Räder Vorrang, aber es biegen fast nur Autos ein, die Parkplätze links und rechts sind belegt. Fröhlich kommt Wolfgang Schuch angeradelt, auf seinem sonderbaren Gefährt: Vorn ein rotes Lastenrad mit Elektromotor, daran angehängt ein Trailer für Kinder zum Mittreten, hinten ein Kinderanhänger. „So, wo parke ich denn jetzt?“ Es ist wie immer: kein Platz für Fahrräder.
In Deutschland fristete der Radverkehr jahrzehntelang ein Nischendasein. Doch jetzt deutet sich ein Wandel an. „Ja, es gibt eine Renaissance des Fahrradfahrens – vor allem in den Städten“, sagt Stephanie Krone vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) in Berlin. Ein Drittel der Großstadt-Haushalte verzichte ganz auf das Auto.
72 Millionen Fahrräder gibt es in Deutschland, darunter drei Millionen E-Bikes. Sie sind mitverantwortlich für das, was die Branche Boom nennt. Etwa 600 000 E-Bikes oder Pedelecs verkauften sich im vergangenen Jahr in Deutschland, und zwar nicht nur an die ältere Kundschaft. Jüngere lieben zum Beispiel E-Mountain-Bikes. Die Verkaufszahlen steigen von Jahr zu Jahr stark an, wie der Verband der Zweirad -Industrie-Verband in diesem Frühjahr berichtet.
Das Pedelec erhöhe die Reichweite enorm, sagt Schuch. Der Marburger arbeitet als Radverkehrsplaner und engagiert sich im örtlichen ADFC. Schuch besitzt – wie viele seiner Bekannten – kein Auto. Seine drei Kinder transportiert er mit dem Lastenrad. „Den jungen Leuten ist das Handy wichtiger als das Auto. Mit dem Handy suchen sie sich das nächste Leihrad. Selbst ein Fahrrad wird nicht mehr angeschafft.“
Das Fahrrad wird 200 Jahre alt: Im Juni 1817 unternahm der badische Erfinder Karl Drais die erste Fahrt auf seiner Laufmaschine, der Draisine. Darauf musste der Mensch mitlaufen. Das moderne Rad entstand 1885 in England, und damit „begann das erste goldene Zeitalter des Fahrrads“, schreibt der britische Autor Robert Penn in seinem Buch „Vom Glück auf zwei Rädern“. Arbeiter konnten nun zur Arbeit pendeln, und auf dem Land sorgte das Rad für eine „weitläufigere Durchmischung der Gene“, so formuliert Penn.
Vor zwei Jahren eröffnete zwischen Essen und Mülheim an der Ruhr das erste Stück des 101 Kilometer langen Radschnellwegs RS 1 – eine Fahrradautobahn mitten durchs Ruhrgebiet, auf der die Leute ohne Störungen durch Autos, Ampeln oder Fußgänger schnell fahren können.
„Der Weg wird viel genutzt zu Zeiten, in denen Arbeitnehmer unterwegs sind“, sagt Barbara Klask vom Regionalverband Ruhr. Der RS 1 soll einmal Hamm in Westfalen mit Duisburg am Rhein verbinden; die Pläne würden „jetzt peu à peu umgesetzt“, erklärt Klask. „Der politische Wille ist da.“ Das Bundesverkehrsministerium fördert in diesem Jahr bundesweit Rad-Schnellstrecken mit zusätzlichen 25 Millionen Euro.
„Ein Witz“, sagt Radverkehrsplaner Schuch, verglichen mit den Subventionen für den Autoverkehr. Aber auch wenn ihm das noch nicht genug ist – es tut sich was. Im vergangenen Herbst testete die Firma Siemens in Marburg eine Grüne-Welle-App für Radfahrer: Per Handy sollen sie die Ampelschaltung beeinflussen können.
„Und der Markt für Sonderfahrräder explodiert“, berichtet Schuch. Es gibt Falträder, Lastenräder, Tandems mit Motorunterstützung. In mehreren Städten gibt es Initiativen „Freie Lastenräder“, die per Online-Buchung Räder gegen Spenden verleihen.
Deutsche Städte brauchen dringend Alternativen zum Autoverkehr. Grund ist die hohe Schadstoffbelastung der Luft, was auch die EU-Kommission anprangert.
Immer noch gebe es einen unfassbar hohen Anteil von „ridiculous car-rides“, lächerlichen Autofahrten, kritisiert Stephanie Krone vom ADFC. „Die Hälfte aller Autofahrten sind unter fünf Kilometer weit.“ Die Grundhaltung vieler Städte sei: Radverkehr, ja bitte, aber ohne Kosten und ohne Einschnitte in den Autoverkehr. „Die Menschen fahren deutlich mehr Rad, wenn sie eine komfortable, einladende Infrastruktur vorfinden“, sagt Stephanie Krone.
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