Diskutiert wird heute: Sind Religionen von Hause aus intolerant? Kann sich die christliche Kirche für die Anliegen anderer Religionen engagieren?
Von Jörg Machel
Zu einer Christvesper in der Emmaus-Kirche in Berlin-Kreuzberg, die von der ARD übertragen wurde, trat ein islamischer Religionslehrer auf, um jene Verse des Koran vor-zutragen, die von Jesu Geburt er-zählen. Er las sie zuerst auf Deutsch, dann sang er sie, so wie in seiner Moschee üblich. Daraufhin erreichten die Gemeinde viele Zuschriften, die erstaunt und dankbar waren, auf diese Weise von der Wertschätzung des Koran für Jesus erfahren zu haben. Einen wütenden Protestbrief gab es auch. Der Schreiber unterrichtete die Gemeinde, dass der Muslim mit seinem Gesang und dem Gebetsruf „allahu akbar“ die Kirche eigentlich in eine Moschee verwandelt habe und er-innerte daran, dass sich die Übernahme der Haggia Sophia durch den Islam genau so vollzogen hatte.Nach dem Fernsehgottesdienst gab es eine Auswertung. Murat Gül berichtete von den Reaktionen in seinem Umfeld. Auch er erzählte, dass die meisten begeistert waren. Ein Mann seiner Gemeinde allerdings war besorgt. Ob Gül eigentlich wisse, dass er sich mit diesem Auftritt in der Kirche vom Islam abgewendet habe? Am Anfang habe der Pfarrer den trinitarischen Gruß gesprochen, am Ende habe er den Segen erteilt und damit sei er als Muslim gefangen in einem christlichen Ritual. Im Jahr 1996 propagierte Samuel P. Huntington den angeblich bevorstehenden „clash of civilizations“, den Kampf der (religiösen) Kulturen. Seine Behauptung wurde von Religionswissenschaftlern gestützt, die meinten, monotheistische Religionen (Judentum, Christentum und Islam) hätten zwangsläufig einen Hang zur Gewalt. Indem sie an nur einen Gott glauben, müssen sie notwendig intolerant gegenüber anderen Religionen sein. Nur der Polytheismus, der viele Götter nebeneinander duldet, sei friedlich – wofür es allerdings keine historischen Belege gibt. Ein Blick auf die Situation in der Welt zeigt, dass das nicht so ist.