Der Wiener Theologe Ulrich Körtner wirbt angesichts einer zunehmend von Gnadenlosigkeit geprägten Lebenswelt für eine Kultur des Erbarmens und des Verzeihens. Im modernen Weltgericht „ist jeder Ankläger, Richter und Angeklagter zugleich“, heißt es einem Gastbeitrag des Hochschullehrers an der Universität Wien für die österreichische Tageszeitung „Die Presse“ (Donnerstag) zum Reformationstag: „Die Gerichtsshows und öffentlichen Lebensbeichten im Privat-TV sind die Farce auf das moderne gnadenlose Weltgericht.“
Mit dem religiösen Begriff der Sünde sei der modernen Welt auch die Dimension der Gnade abhandengekommen: „Der Mensch als Letztverantwortlicher und Angeklagter kann auf keine Instanz hoffen, die ihn freispricht.“ So gesehen habe sich die Frage nach dem gnädigen Gott, die Martin Luther und seine Zeit bewegte, keineswegs erledigt, fügte Körtner hinzu: „Die reformatorische Rechtfertigungsbotschaft richtet sich an den Menschen, der, modern gesprochen, um seine Anerkennung kämpft.“
„Nun ist der Mensch selbst Richter und Angeklagter zugleich“, so der Theologe. „Weil Gott fehlt, tritt an die Stelle der Rechtfertigung des Menschen eine Unkultur des Rechthabens“, greift er einen Gedanken des Schriftstellers Martin Walser (1927-2023) auf.
An diesem Reformationstag wird auch an die vor 25 Jahren, am 31. Oktober 1999, in Augsburg von Vatikan und Lutheranern verabschiedete „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ erinnert. Damit hoben Protestanten und Katholiken ihre jahrhundertealten gegenseitigen Lehrverurteilungen zur Rechtfertigungslehre auf und bekundeten einen „Konsens in Grundwahrheiten“. Die Gemeinsame Erklärung gilt bis heute als das einzige ökumenische Konsensdokument in der westlichen Kirche, das offiziell anerkannt und bestätigt wurde. Praktische Auswirkungen im kirchlichen Leben gibt es bislang allerdings nicht.
Am Reformationstag erinnern Protestanten in aller Welt an die Anfänge der evangelischen Kirche vor rund 500 Jahren. Die vom damaligen Augustinermönch Martin Luther (1483-1546) um den 31. Oktober 1517 von Wittenberg aus verbreiteten 95 Thesen gegen kirchliche Missstände wurden zum Ausgang einer christlichen Erneuerungsbewegung. Während der Gedenktag früher zur Abgrenzung der Protestanten gegenüber katholischen Christen genutzt wurde, wird er inzwischen im Geist der Ökumene gefeiert.