Kirche und Attraktivität – geht das überhaupt zusammen? Mitgliederzahlen sinken, nicht nur aus Altergründen.Viele Menschen treten aus. Junge Leute bleiben fern. Was tun?
Von Theresa Brückner
Feiern, singen, tanzen, lachen – so habe ich den Kirchentag schon oft erlebt. Wie ein Festival, mit all der schönen Stimmung und dem großartigen Gefühl mit all den Menschen gemeinsam etwas zu erleben und gemeinsam zu glauben. Inklusive des Blues, oder auch des Festival-Katers danach, an denen der Alltag plötzlich wieder da war.Denn – ganz ehrlich – der klassische evangelische Alltag in den Gemeinden und Kirchen sieht leider oft ganz anders aus. Selten hat er Eventcharakter, Spannung oder wirklich aktuell Neues zu bieten. Dieser evangelische Alltagstrott ist landeskirchenweit spürbar, durch die enorm niedrige Zahl der Gottesdienstbesuchenden auch sichtbar und durch die Freiburger Studie „Projektion 2060“ bestätigt: Bis 2060 könnte die Evangelische Kirche die Hälfte ihrer jetzigen Mitglieder verloren haben; nicht nur aufgrund des demografischen Wandels, sondern weil viele Menschen aus der Kirche austreten.Menschen kommen nicht mehr automatisch zu uns in die Kirchen um Antworten zu finden oder Gemeinschaft zu erleben. Das ist eine schmerzliche Tatsache, dennoch kann sie heilsam sein, wenn wir sie jetzt wirklich mal ernst nehmen.Ich glaube, es gibt keine Patentlösung gegen den Mitgliederschwund. Aber ich glaube, es gibt Möglichkeiten, dass Kirche für Menschen wieder zugänglicher wird. Sie lauten: Rausgehen, zuhören, offen sein. Rausgehen bedeutet für mich, dass wir zu den Menschen gehen. So wie auch Jesus selbst schon zu den Menschen gegangen ist. Raus aus den Kirchen- und Gemeindegebäuden, hinein in den Alltag und die Umgebungen der Menschen vor Ort. Rausgehen aus der gemeindlichen allbekannten Komfortzone. Auch raus aus der kirchlichen Sprache, den theologischen Vokabeln, die keiner mehr versteht, wenn er nicht in einem Kirchenumfeld hineingeboren wurde oder schon Jahre dabei ist. Denn außerhalb unserer kirchlichen Komfortzone kann man den Menschen zuhören.Zuhören bedeutet in diesem Kontext, dass man wirklich hört, was die Menschen brauchen und wollen. Es bedeutet nicht, dass versucht wird, Veranstaltungen, Denkweisen und Menschen in die festen Vorstellung hineinzuzwängen, wie Kirche oder die Gemeinde zu sein habe oder schon die letzten 500 Jahre gewesen sei. Nach über 15 Jahren Jugendarbeit frage ich mich in diesem Zusammenhang besonders: Warum hören wir den Jugendlichen so wenig zu? Warum wird in der Gemeindeleitung oft davon ausgegangen, dass Jugendliche kirchliche und gemeindliche Strukturen nur noch nicht richtig verstanden hätten und sie sich deshalb an das Fremde in der Kirche und im Gottesdienst erst gewöhnen müssten?Ich glaube, wir sollten wirklich mal nachfragen und ernsthaft zuhören, was sich die Jugendlichen unserer Gemeinden wünschen, und das dann auch mal ohne Einschränkungen umsetzen. Und auch zuhören, wie sich Menschen Kirche vorstellen und an ihrem Ort wünschen, die nicht regelmäßig zu Gemeindeveranstaltungen kommen. In den sozialen Medien erlebe ich es häufig, dass mir Menschen schreiben, die sonst noch nie einen Fuß in ein Kirchengebäude oder eine Gemeindeveranstaltung gesetzt haben. Es ist gesund, in diesen Austausch zu gehen. Gerade wenn Menschen von außen kommen und betonen, dass Dinge in der Kirche nicht verständlich sind, im Gottesdienst, in den Abläufen, in den Strukturen, in der Sprache, dann müssen wir überlegen, wie wir transparenter und verständlicher sein können.Das bedeutet aber auch, dass wir offen sein müssen. Offen dafür, dass in der Kirche und in der Gemeinde auch Dinge wirklich mal anders gemacht werden. Nicht so, wie es schon immer war, nicht so wie „Kirche zu sein hat“, sondern so wie Kirche vor Ort für die Menschen gebraucht wird – wirklich anders.Das bedeutet auch, das man Dinge einfach mal ausprobiert und dann schaut, was funktioniert und was nicht. Fehler dürfen gemacht werden. Sie passieren automatisch, wenn man mutig etwas verändert.Wir müssen als Christ*innen in der evangelischen Kirche offen sein dafür, dass sich wirklich etwas bewegen kann. Nicht nur ein bisschen. Und Veränderung auch nicht nur in Anlehnung daran, wie es schon immer war. Sondern wirkliche, mutige, vielleicht anfangs schmerzhafte aber heilsame Veränderung. Denn dann kann etwas Neues wachsen und entstehen. Dann kann die Freude, die wir am Glauben haben, auch für andere wieder sichtbar werden.
Theresa Brückner diskutiert auf dem Kirchentag über die Zukunft Europas unter anderem mit dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert: Am Sa, 22. Juni, 15-15.30 Uhr. Forum Diakonie, Messehallen.
Theresa Brückner (@theresaliebt) ist Pfarrerin für Kirche im digitalen Raum im Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg in Berlin. Foto: Kirchenkreis