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Radfahren wird zum Gebet

Christian Grethlein, Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, hat 2013 ein Manifest zu einem ungewöhnliches Thema veröffentlicht: „Gott fährt Rad“. Was verbirgt sich dahinter, und passen Beten und Treten, Radfahren und Kirche wirklich zusammen – und wenn ja, wie? Darüber sprach Gerd Felder mit Grethlein.

Herr Professor Grethlein, wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Manifest?  

Durch meine eigene Begeisterung für das Radfahren. Ich fahre, ob bei Sonne oder Regen, von meinem Wohnort Everswinkel etwa 22 Kilometer bis zur Universität in Münster – und genieße das. Ich rieche unterwegs die Wiesen und spüre die Sonne auf meinem Kopf. Das ist im Auto alles nicht möglich. Was ich am Radfahren auch schätze, ist die Entschleunigung. Wenn ich in der Universität stressige Termine hatte, komme ich durch das Radfahren entspannt nach Hause. Und wenn ich umgekehrt manchmal mit hochrotem Kopf in der Fakultät ankomme, weiß jeder: Das ist nicht Zorn oder Aufregung, sondern Resultat meiner Anfahrt mit dem Rad; ich bin eben gut durchblutet.

Fährt Gott denn Rad, wie es in der Überschrift Ihres Manifests heißt?
Zumindest begleitet er uns Radfahrer. Auf jeden Fall kann man ihm mit dem Fahrrad begegnen.   

Das heißt, Beten hat etwas mit Treten zu tun, Radfahren ist also Pilgern?
Das Radfahren hat tatsächlich etwas Meditatives. Durch die Rhythmik der Bewegung kann es sogar zum Gebet werden. Radreisen sind ja eine Form des Pilgerns, was wörtlich übersetzt „Fremdsein“ heißt. Denn wie beim Pilgern setze ich mich bei einer Radreise dem Fremden aus, lasse mich überraschen – und begegne vielleicht Gott. Ich selbst habe bisher zweimal längere Radtouren gemacht, und zwar von Passau nach Wien und von Südtirol nach Slowenien, und ich kann Ihnen versichern: Wenn Sie mit dem Rad durch eine tolle Landschaft fahren, kommen Sie auf spirituelle Gedanken.
Sie heben das besondere religiöse Potenzial von Radwegekirchen hervor. Welche Impulse können sie vermitteln?
Zwei Beispiele: Nicht wenige ländliche Kirchen sind von einem Friedhof umgeben. Er erinnert uns mit seinen Gräbern aus vergangenen Zeiten an eigene Sterblichkeit. Auch kann der Taufstein ein Nachdenken über das eigene Getauft- und damit Christ-Sein anstoßen. Beide Orte, Friedhof und Taufstein, können auf eine unaufdringliche Weise durch ihren Bezug zur eigenen Biographie berühren und zum Austausch mit anderen einladen, übrigens auch denen, die seit Jahren keinen Gottesdienst mehr besuchen. Wichtig ist, dass die Kirche dabei nicht zu einer eigenen Veranstaltung einlädt, sondern dass Menschen als Touristen auf Kirche treffen.

Evangelische Kirchen sind oft geschlossen, und Gemeinden wehren sich aus Sicherheitsgründen gegen eine Öffnung…
Dass Kirchen so oft zu sind, halte ich für unmöglich. Schon Ende der 50er Jahren forderte die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), die Kirchen zu öffnen, weil sie Orte sind, die es Menschen erlauben, zu sich selbst zu kommen. Kirchen müssen grundsätzlich offen sein. Das ist geradezu ein diakonisches Anliegen, denn wo gibt es sonst vergleichbar hochwertige Gebäude? Auch ein verständliches Sicherheitsbedürfnis darf nicht dazu führen, den Kirchenraum einfach zu verschließen.

Sie glauben also nicht, dass die Gemeinden vor Ort sich querlegen werden?
Ganz im Gegenteil. Die Gemeinden auf dem Land bluten vielfach aus, aber die Menschen vor Ort sind stolz auf ihre Kirchen und setzen sich in örtlichen Initiativen für ihren Erhalt ein – gerade auch in Ostdeutschland, wo sich oft Nichtkirchenmitglieder für „ihre“ Kirche engagieren. Radwegekirchen können Landgemeinden stabilisieren und sie zugleich für die „Fremden“ aus der Stadt öffnen.

Es geht ihnen bei den Radwegekirchen auch um Gastfreundschaft.
Nein, denn Sie müssen beachten, dass es im Tourismus immer ums Geldverdienen geht, bei den Radwegekirchen aber alles gratis ist. Ich kann dort rasten, mich hinsetzen und meine mitgebrachte Wasserflasche füllen, und alles ist kostenlos – genauso wie auch die Zuwendung Gottes zu uns gratis ist. Angesichts der Privatisierung und Ökonomisierung des öffentlichen Raums ist das ein bedeutsames Zeichen. Und wenn an einem kühlen Herbsttag noch ein wärmender Tee gereicht wird, wird wohl kein Radreisender ablehnen. Das zeigt:  Kirche dient Menschen und will nicht an ihnen verdienen.

Die Radwegekirchen tragen also zur Verkündigung bei?
Ich selbst benutze den Begriff „Verkündigung“ nicht, weil er mir zu direktiv ist. Stattdessen sage ich: Man kann auch bei Radreisen das Evangelium entdecken, etwa durch das Betrachten der Darstellungen der Kreuzigung Jesu, durch das Gespräch mit anderen Radtouristen oder Vertretern der Gemeinde. Die Radwegekirchen ermöglichen Kommunikation des Evangeliums im ganz ursprünglichen Sinn. Wie bei Jesus können Menschen hier etwas lernen, sie essen und trinken zusammen und helfen sich gegenseitig. Und diese Kommunikationen sind – wie bei Jesus – ergebnisoffen.