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Psychotherapeuten wollen Risikogruppen gezielter unterstützen

Millionen Erkrankte und kaum Behandlungsplätze: Fachleute schlagen Alarm, weil Diagnosen oft erst spät kommen – gerade bei besonders verletzlichen Gruppen. Ideen, wie sich das ändern lässt, gibt es auch.

Autismus oder Konsumstörungen, Psychosen oder geistige Behinderung – Menschen mit komplexem Bedarf an Unterstützung fallen in Deutschland mitunter aus der psychologischen Versorgung heraus. Von einer Autismus-Spektrum-Störung seien von 100 Menschen einer bis zwei betroffen, sagte die Klinische Psychologin Isabel Dziobek am Mittwoch in Berlin. Vor 20 Jahren sei man noch vom Wert 0,1 ausgegangen. Dennoch sei die Versorgungslage in Sachen Diagnostik und Therapie “desolat”: Es gebe etwa ein Dutzend spezialisierte Zentren in ganz Deutschland – mit Wartelisten von teils über einem Jahr.

Dziobek äußerte sich bei einem Symposium der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung. Deren Bundesvorsitzender Gebhard Hentschel sprach sich für eine verbessere Versorgung aus: Um gezielte Zusammenarbeit zu ermöglichen, brauche es mehr Flexibilität. Auch spezialisierte Zentren könnten Teil der Lösung sein.

Für mehr Handlungsspielräume von Therapeuten sprach sich auch der Psychologe Tim Pfeiffer aus. “Es wäre sinnvoll, wenn eine Patientin gelegentlich mit mir sprechen darf, wenn sie sich in stationäre Behandlung begibt”, sagte der niedergelassene Therapeut. Derzeit sei dies rechtlich jedoch nicht möglich. Wenn sich ein Therapeut wiederum mit einer Hausärztin oder einer Suchtberatung austausche, müsse es zudem möglich sein, diese Fachleistung auch abzurechnen.

Dziobek kritisierte, dass sowohl Therapeuten als auch Internistinnen über Autismus wenig Bescheid wüssten. Deutschland sei in dieser Hinsicht eine “Versorgungswüste”; vor allem Betroffene ohne Intelligenzminderung suchten häufig erst im Erwachsenenalter Hilfe. Beratungs- und Therapieangebote müssten an die speziellen Bedürfnisse dieser verletzlichen Gruppe angepasst werden.

Auch über den Konsum von Substanzen wie Alkohol, Tabak oder Cannabis werde zu undifferenziert diskutiert, sagte Pfeiffer. So sei es weder abweichendes noch problematisches Verhalten, wenn ein Erwachsener zwei Mal wöchentlich einen Joint rauche. Als problematisch galt der Cannabis-Konsum laut Report Psychotherapie von 2021 bei 1,3 Millionen Menschen – beim Alkohol waren es 9 Millionen, bei Nikotin 4 Millionen und bei Medikamenten 2,9 Millionen Menschen. Problematischer Substanzkonsum sei grundsätzlich ein Massenphänomen, betonte der Psychologe.

Jedoch fielen Menschen mit Substanzstörungen mitunter durchs Raster: Psychische oder Verhaltensstörungen wegen Alkohol machten nur 1,3 Prozent aller Behandlungsanlässe aus. Dabei hätten Betroffene ein höheres Risiko für andere psychische Erkrankungen, etwa Persönlichkeitsstörungen oder schwere Depressionen. Zudem seien von Suchterkrankungen allein zehn Millionen Angehörige mitbetroffen; drei Millionen Kinder lebten mit Eltern, die Alkohol oder Opioide in problematischer Weise konsumierten. “Das entspricht zehn bis 15 Prozent der Minderjährigen”, mahnte Pfeiffer. Insofern dürfe dieser Aspekt bei Diagnostik und Behandlung nicht außen vor bleiben.