Eine in die Moderne verlegte Adaption von Guy de Maupassants fantastischer Novelle “Der Horla” um einen Familienvater, den nur von ihm wahrgenommene Geräusche und Erscheinungen in den Wahnsinn treiben.
In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:
Ein junges Ehepaar aus Paris zieht mit seiner achtjährigen Tochter in eine Wohnung in der französischen Provinz. Die Mutter Nadia (Mouna Soualem) ist medizinische Forschungsangestellte und findet in ihrem neuen Labor schnell Freunde und Vertraute. Ihr Mann Damien (Bastien Bouillon) arbeitet als Grafiker aber ausschließlich im Homeoffice.
Das tut ihm nicht gut. In der Neuverfilmung frei nach Guy de Maupassants Novelle “Der Horla” beginnt er schon bald, unter seltsamen Erscheinungen zu leiden und Geräusche zu hören, die außer ihm aber niemand wahrnimmt. Zunehmend steigert er sich in die Vorstellung hinein, dass ein furchtbares Wesen von ihm Besitz ergreifen will, und gefährdet damit sich wie auch seine Umwelt.
Die in die Moderne verlegte Adaption durch Marion Desseigne Ravel greift klug und effektvoll die Problemstellung der Vorlage über den Einbruch des wissenschaftlich Unerklärlichen in eine rationalistische Gesellschaft auf. Das auch formal einfallsreiche Psychodrama steigert die Krise dramaturgisch gekonnt mit Anleihen beim Horrorfilm zum stetig zunehmenden Identitätsverlust. – Ab 16.
Ein Spukhaus muss nicht aussehen wie Hui Buhs Schloss Burgeck oder im dunklen deutschen Walde stehen. Manchmal tut es auch ein ganz normales modernes Hochhaus mit Eigentumswohnungen irgendwo in der (im Film) stets sonnigen französischen Provinz. Dort zieht ein junges Ehepaar aus Paris zusammen mit Chloé (Milla Harbouche), seiner circa achtjährigen Tochter ein. Nadia (Mouna Soualem) ist medizinische Forschungsangestellte und findet in ihrem neuen Labor schnell Freunde und Vertraute. Obwohl erneut schwanger, übernimmt ersichtlich sie die Rolle der Familienmanagerin, während Damien (Bastien Bouillon) als Grafiker nun zu hundert Prozent im Homeoffice arbeitet.
Schon früh in Marion Desseigne Ravels Literatur-Neuverfilmung “Das unsichtbare Wesen”, die frei auf Guy de Maupassants Klassiker der psycho(patho)logischen Novelle “Le Horla” beruht, zeigen sich indes Zeichen des Außergewöhnlichen, die sich alsbald zu etwas Beziehungsreich-Sinistrem zusammenballen. Zumindest für Damien (der als Einziger Absonderliches wahrnimmt) und uns, die dem zusehen können. Gehören die Krokodile, die unter dem Zebrastreifen leben sollen, noch unschuldigem Spiel und kindlichem Aberglauben an, so widersetzt sich die neue Behausung, als habe sie Eigenwillen, hartnäckig ihrer Inbesitznahme durch ihren menschlichen Meister.
Die Dinge beginnen ernstlich problematisch zu werden, als Damien den seltsam rauschend-gurgelnden Ton, den er bereits am ersten Tag in der neuen Wohnung schwach wahrnahm, stärker und dauerhaft vernimmt – und sich dafür partout keine vernünftige Erklärung finden lässt. Sind die maroden Abwasserleitungen des in die Jahre gekommenen Apartmentkomplexes die Ursache? Und welche Rolle spielt eigentlich der schroff-wortkarge, wenig hilfreiche Klempner und Hausmeister Bernier (Miglen Mirtchev) in dieser Sache?
Es gehört zu den Qualitäten des Bedrohlichen sowohl der literarischen Vorlage als auch dieser Verfilmung, dass wir alle als konditionierte Grundsucher unsere eigenen größten Befürchtungen an die Stelle des Unerklärlichen setzen können – und dies naturgemäß auch tun. Leidet Damien etwa unter stressinduziertem Tinnitus, ist er gar Opfer von Long Covid? Es hilft jedenfalls nicht, dass er im Homeoffice alsbald gänzlich zu versumpfen beginnt: Er wechselt seine Klamotten nicht mehr und hinkt mit der Fertigstellung seiner Aufträge bald heillos hinterher.
Das Geräusch, das nur er hört, schwillt an. Obwohl er nächtens fast kein Auge mehr zutut, trinkt jemand – oder etwas – seine Wasserflasche am Bett leer, ohne dass er das bemerkt. Ab und an ist da in seinem Augenwinkel eine schemenhafte schwarze Zusammenballung; er nennt sie “la présence” (die Manifestation) und versucht, sie mit seiner Go-Pro-Kamera zu dokumentieren. Damien wird immer zerfahrener und reizbarer; seine Firma sagt sich von ihm los; schließlich versäumt er es, Chloé von der Schule abzuholen, und sucht verzweifelt Rat bei einer als Online-Spiritistin tätigen Nachbarin (Alix Blumberg dit Fleurmont).
All dies kann seiner durch und durch rational gesinnten Gattin selbstverständlich gar nicht gefallen; sie empfiehlt ihm stattdessen Sitzungen bei einem Psychotherapeuten und sucht für ein Wochenende Distanz zu Damien. Dieser dramatische Mittelakt von “Das unsichtbare Wesen” reflektiert auf klug in die Gegenwart übertragende Weise die Problemstellung und erzählerische Haltung der Originalvorlage, in der Maupassant ebenso den Einbruch des wissenschaftlich Unerklärlichen in eine zutiefst positivistisch geprägte Moderne schildert – sowie die fieberhaften Erklärungsversuche aus jenem Geiste seitens des namenlosen Protagonisten, bis hin zur Möglichkeit einer viralen Infektion aus fernem Lande.
Nach einem furiosen Rave Damiens mit seinen kabellosen Kopfhörern im leeren Apartment kulminieren die Erscheinungen und Ereignisse krisenhaft wie bei einem Krankheitsverlauf und führen geradewegs auf die Katastrophe zu. Die auch für die zur Zeugenschaft gezwungenen Zuschauer manifeste Desintegration seiner Identität ist zu viel für Damien; er entschließt sich wie in der literarischen Vorlage zum Äußersten: Erst wer sein Leben zu verlieren wagt, der wird es (wieder) gewinnen, so eine von religiöser Hoffnung grundierte Deutungsmöglichkeit der filmischen Aussage. Doch das Ende, so viel sei verraten, ist verzweiflungsvoll und schwarz – wie Damiens Erscheinung.