Seit anderthalb Jahren herrscht in Nahost wieder Krieg; zuletzt spitzte die Lage sich zu. Avi Primor zeigt sich besorgt über die Entwicklung der israelischen Gesellschaft – und erteilt dem Fanatismus eine klare Absage.
Avi Primor (89), langjähriger israelischer Botschafter in Deutschland, beschreibt den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 als Angriff auf die Seele Israels. Die israelische Gesellschaft befinde sich noch immer “im Schockzustand”, sagte Primor im Interview des Magazins der “Süddeutschen Zeitung” (Freitag). Fast niemand habe mehr die Geduld zu hören, “was der anderen Seite widerfährt. Die Leute sind mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt.”
Zudem sei Israel bei Benjamin Netanjahu “in sehr schlechten Händen”, sagte der Diplomat. Der Ministerpräsident denke nur an sich: “Um sich an der Macht zu halten, ist er abhängig von den extrem religiösen und faschistischen Kräften in seiner Regierung.”
“Natürlich” verstehe er Menschen, die Israel vorwerfen, ein Apartheidsregime zu sein, fügte Primor hinzu. “In den besetzten Gebieten haben wir Apartheid. Dass die Araber dort nicht gleichberechtigt mit den jüdischen Siedlern sind, ist sogar eine Untertreibung.” Israel betrachte das Westjordanland als “Teil der biblischen Heimat”, und viele Rechte oder Ultrareligiöse seien in dieser Frage “völlig kompromisslos”.
Die politische Einstellung vieler Israelis habe sich im Zuge des neuerlichen Gaza-Kriegs verändert, erklärte der Publizist. “Viele, die immer von der Gleichberechtigung der Palästinenser sprachen, trauen sich nicht mehr, das zu sagen. Ich weiß nicht, ob sich das wieder ändern wird.” Er selbst und seine Familie hätten bisher Glück gehabt, seien jedoch “dauernd besorgt, dauernd beunruhigt. Wie die meisten Israelis. Wir haben kein Vertrauen, vor allem nicht in unsere Regierung.”
Primor, dessen Vorfahren mütterlicherseits im Holocaust ermordet wurden, betonte zugleich, religiöse Fanatiker hätten “überhaupt keinen Plan. Sie sagen immer nur: Gott wird uns schon helfen, Gott hat uns noch immer geholfen. Ich antworte dann: Ja, gewiss, so wie im Zweiten Weltkrieg. Darauf werden sie erst richtig wütend.”