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“POP-Theologie”: Mehr Gefühl in die Kirchen

Das Wort „Pop“ verbinden viele mit seichter Unterhaltung. Anders die „POP“-Theologie: Sie nimmt die Bedürfnisse der Menschen nach Unterhaltung, sinnlicher Wahrnehmung und heilsamer Atmosphäre auf.

Neue Wege der Gottesdienstgestaltung mit Hilfe der Pop-Kultur.
Neue Wege der Gottesdienstgestaltung mit Hilfe der Pop-Kultur.Imago / Lantin America News Agency

Die Kirche: gut gefüllt; das Publikum: gemischtes Alter; der Altar: üppig mit Kerzen geschmückt. Ich bin zum Seiteneingang reingekommen, durch einen Stoffvorhang mit Klinkersteinen, über dem Gleis 9¾ stand. Eine aufmerksame Dame reicht mir ein Ferrero Rocher – das sind diese runden, in goldenes Zellophanpapier eingepackten Schokokugeln –, an das ebenfalls goldene und darüber hinaus schwungvoll-schnörkelige Flügelchen geklebt sind. „Aber noch nicht essen!“, mahnt sie.

Wenn die dunkle Jahreszeit – und in den Romanen des Harry-Potter-Universums im Zauberinternat Hogwarts das Schuljahr – beginnt, werden in einzelnen Gemeinden Andachten und Gottesdienste mit magischer Rahmung angeboten.

Was verbindet Harry Potter und die Bibel?

Bisher hat sie niemand gezählt, es mag sich um einige wenige pro Jahr handeln. Entsprechend kann in ihrer Durchführung nicht von Einheitlichkeit gesprochen werden, wenngleich ein Motiv wiederkehrt: Die vermeintliche inhaltliche Nähe von J. K. Rowlings Zauberei-Romanen und der Bibel. Die Menschen, die solche Gottesdienste ausrichten, sagen, es gehe um Freundschaft, Mut, Liebe.

Hinzu kommen quasi wörtliche Entsprechungen wie „Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod“, ein Zitat aus dem 1. Korintherbrief, Vers 15,26, das auf dem Grabstein von Harrys Eltern steht. Außerdem gibt es eine sich opfernde, sterbende und wieder auferstehende Hauptperson.

Adele begeistert die Massen, wie hier in München im Sommer 2024
Adele begeistert die Massen, wie hier in München im Sommer 2024Imago / Cover-Images

Gut, denken wir, aber hat hier J. K. Rowling nicht einfach ihre christliche Prägung sowie mythische Erzählbausteine in ihre Geschichte gewoben, wie es so viele andere auch tun? Worum geht es noch?

Aktuell lässt sich ein ganzes Potpourri an Themenkirchenevents beobachten, die sich an popkulturelle Werke wie „Die Chroniken von Narnia“, „Star Wars“, „Der Herr der Ringe“ oder an Künstlerinnen wie Adele oder Taylor Swift anlehnen. Die biblischen Rückbindungen erscheinen allerdings apologetisch-legitimierend und die Zusammenhänge konstruiert. Der Sinn der Veranstaltungen übersteigt, nach unserer Einschätzung, die Neuverpackung christlicher Themen für ein zunehmend kirchenfernes Publikum.

Harry Potter ist untrennbar mit einer besonderen, zauberhaften Stimmung verbunden, so geht es zumindest uns, wie vielen anderen Millennials. Wer als Kind die Bücher gelesen oder die Filme gesehen hat, taucht auch als Erwachsener sofort wieder ein in die Buchwelt aus Zauberei und Kerzenlicht, voll geheimnisvoller Musik, unerschütterlicher Freundschaften und magischer Tierwesen. Das Harry-Potter-Universum zu betreten, ist ein bisschen wie Heimkommen; nicht umsonst berichten Menschen von einer Sehnsucht, diese vertraute Welt wieder zu besuchen, auch wenn sie ziemlich düster sein kann. Denn was einen dort erwartet, ist Atmosphäre.

Manchmal ist die Form wichtiger als der Inhalt

Die Geschichte ist unzählige Male gelesen, gehört, adaptiert und weitergedichtet worden, so dass der Inhalt inzwischen trivial wirken mag (manche überlegen sogar, ob er es nicht schon immer gewesen sei). Dass der Inhalt von etwas, das erzählt wird, ohnehin nicht das Entscheidende eines Werks ist, hat die amerikanische Essayistin Susan Sontag in den 1960er Jahren beschrieben: Wer interpretiert, wähle den falschen Zugang zur Kunst, schreibt Sontag. Wer einzelne Elemente aus einem Werk herausgreift und sie mit einem anderen Aspekt gleichzusetzen versucht, werde ihm nicht gerecht. Stattdessen, so fordert sie, müssten die Dinge in ihrer Ganzheit genau und feinfühlig wahrgenommen werden. Was steht zwischen den Zeilen? Welche Stimmung wird transportiert? Wie wird erzählt? Sontag richtet ihren Fokus auf die Form.

Nun lässt sich argumentieren, dass sich die Kirche zunehmend schwertut mit Stimmung, Inszenierung und Atmosphäre. Gottesdienste sind längst kein Spektakel mehr. Vor allem die protestantische, auf das Wort bedachte und jeden Schmuck vermeidende Tradition neigt dazu, den Verstand in den Vordergrund zu stellen.

Eine klare Hinwendung zum Wunderbaren

Dass man sich jedoch im 21. Jahrhundert unverhohlen dem Irrationalen zuwendet, wissen wir nicht erst, seitdem das Wort „postfaktisch“ aus unserem Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken ist. Das Wunderbare ist wieder auf dem Tableau!

Der klassische Gottesdienst hat aufgehört, Menschen zu verzaubern. Da kommt die magische Welt gerade recht, die Stimmung ist vorgegeben, die Inszenierung klar, die ästhetischen Codes stehen fest: Kerzen und Orchestermusik, Zaubersprüche und gemeinsame Träume. Ästhetik hält über den Umweg „Harry Potter“ wieder Einzug in die Kirchen.

Entscheidend sind nicht die „neuen“ Geschichten gegenüber den alten, christlichen Erzählungen, die den Menschen „neue“ Identifikationsfiguren- und angebote bieten, sondern das umfassende Bedürfnis, ganzheitlich unterhalten zu werden und sich – wenn auch nur für einen Moment – einer heilsamen und Unterhalt bietenden Atmosphäre hinzugeben. Der Mensch ist nicht nur ein geschichtenerzählendes Wesen, wie der britische Schriftsteller Graham Swift meint – also ein Wesen, das auf Geschichten angewiesen ist und sich in ihnen verstrickt –, sondern, so der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga, zugleich ein „homo ludens“, also ein Subjekt, das sich spielerisch in fremden Welten bewegt, diese zeitweise miteinander verknüpft und dann wieder auseinanderfallen lässt.

Die Pop-Kultur beschreibt einen Zeitgeist

Eine moderne POP-Theologie nimmt diese neue Sensibilität wahr und reagiert darauf. Sie ist sich der Notwendigkeit einer ansprechenden Oberfläche sowie des Werts von Unterhaltung sowie ästhetischem Genuss bewusst. Sie versteht sich darin, eine Atmosphäre zu schaffen, die auf die Gestaltung von passenden Raumarrangements abzielt, die einerseits die popkulturellen Geschmackspräferenzen der Menschen aufnimmt, aber sich zugleich auf eine unerwartete Tiefe bezieht, die auf das Vorbewusste, die sinnliche Wahrnehmung verweist.

Üblicherweise weckt das Wort „Pop“ Assoziationen wie oberflächlich, schrill, leicht konsumierbar, unterhaltend, kitschig und massenwirksam. POP-Kultur hingegen ist mit einer veränderten Erlebnisweise verbunden, die mit einer universellen Ästhetisierung und kulturprägenden Wirkung einhergeht. Auf diese Weise avanciert POP zum Vernetzungsbegriff von Kulturströmungen jeglicher Art, die vom Mainstream bis zur Avantgarde reichen, weil POP einen Zeitgeist beschreibt – einen Zeitgeist, in dem nicht die Hochkultur mit ihren Exklusivitätsansprüchen die tragenden Geschichten bestimmt.

Im POP gilt es, (auch) die ästhetischen Präferenzen und diejenigen Stimmungen eines Menschen zu bedienen, die ihm zutiefst innewohnen. Das heilende Moment ist jenes, in dem ein Mensch aufgehen kann, nicht weil ihm etwas zugesprochen wurde, sondern weil er etwas gefühlt hat. Sobald meine Stimmung aufgegriffen wird, ob durch „Eine feste Burg ist unser Gott“ oder den Taylor-Swift-Hit „Anti-Hero“, oder besser, wenn mich die Stimmung aufgreift und wir gemeinsam oszillieren, passiert das entscheidende Moment.

Und so wie ich das Brot esse, verleibe ich mir mit einem kleinen geflügelten Rocher die Stimmung ein, in der ich mich vertraut, warm und heimisch fühlen kann.

Anna Jäger
Anna Jägerprivat
Friederike Jaekel
Friederike Jaekelprivat
Maria Seipel
Maria Seipelprivat