„Lebe im Verborgenen“ – dieser Aufforderung des griechischen Philosophen Epikur ist der schwäbische Schriftsteller Eduard Mörike gefolgt. Unter dem Titel „Verborgenheit“ hat er in einem Gedicht seine Lebensdevise zusammengefasst: „Lass, o Welt, o lass mich sein! Locket nicht mit Liebesgaben“. Was hatte „die Welt“ ihm angetan, dass er sie so verschmähte?
Mörike, der am 4. Juni 1875 – vor 150 Jahren – in Stuttgart starb, verlor mit 13 Jahren seinen Vater. Am 8. September 1804 in Ludwigsburg geboren, hatte der junge Eduard das Stuttgarter Gymnasium besucht, bevor er nach dem Tod des Vaters auf Wunsch seines Onkels und Vormundes ins Niedere Theologische Seminar zu Urach eintrat, um eine geistliche Laufbahn einzuschlagen – gegen Eduards Willen.
Vor dem Bildungsdrill der protestantischen Klosterschule floh Mörike in die Natur, las Klopstock und Goethe. 1822 wurde er endgültig zum „gefangenen“ Theologiestudenten am renommierten Tübinger Stift: Mörike klagte über seine Neigungen zu „hypochondrischen Quälereien“, sprich: Depressionen, trieb sich herum, kam in Arrest und erfand mit seinem Freund Ludwig Bauer einen Fluchtraum.
„Dabei handelt es sich um eine Fantasie-Insel mit eigenen Göttern, eigenen Völkern und eigener Geschichte“, erläutert der Germanist Ulrich Kittstein von der Universität Mannheim. „Orplid“ sei im südlichen Pazifik zu verorten. Neben anderen Mörike-Gedichten spiele der „Gesang Weylas“ darauf an: „Du bist Orplid, mein Land! Das ferne leuchtet.“
„Viele von Mörikes Gedichten entwerfen Rückzugsorte“, erläutert Kittstein. „Er reagierte damit auf die zahlreichen Krisen seines Lebens, das an sich keineswegs so idyllisch und verträumt war, wie es das Klischee will.“ 1826 geriet Mörike in seine achtjährige „Vikariatsknechtschaft“, wie er die Ausbildungszeit zum Pfarrer nannte. Er verbrachte sie an zehn verschiedenen Orten. Ein unstetes Leben zwischen Umzugskoffern blieb ihm auch später lange erhalten.
Mit Frauen hatte er wenig Glück. Eine frühe Liebe zu seiner Cousine Klara Neuffer weckte den kreativen Impuls: „Was ich lieb und was ich bitte, gönnen mir die Menschen nicht“, klagte der Siebzehnjährige. Zwei Jahre später verliebte er sich in das Schankmädchen Maria Meyer, dem er nach einem Zerwürfnis schuldbewusst einen Gedichtzyklus widmet: „Peregrina“. Seine spätere Verlobte Luise Rau löste wegen fehlender Existenzgrundlage die Verbindung.
Als verhängnisvolle Frau kehrt Maria Meyer in seinem einzigen Roman „Maler Nolten“ wieder.
Mörike „verbindet die Künstlerthematik eng mit den seelischen Krisen und Konflikten der Figuren, vor allem mit Liebes- und Triebverstrickungen, die in der Kunst verarbeitet werden und trotzdem tödlich enden“, erklärt Kittstein. Tatsächlich bleiben alle Personen wie bei Shakespeares „Hamlet“ auf der Strecke. Damit hat Mörike sein eigenes Ideal des gesunden Maßes verraten, das er in dem Roman über den Maler unter dem Titel „Gebet“ thematisiert hat: „Wollest mit Freuden/Und wollest mit Leiden/Mich nicht überschütten! Doch in der Mitten/Liegt holdes Bescheiden.“
„Mörike verkraftete Aufregungen und starke Erschütterungen nicht, fühlte sich leicht angegriffen und überfordert“, erklärt Kittstein. „Die Dichtung war für ihn das Medium, mit dem er die Welt durch ästhetische Überformung bewältigen konnte und sich ihr gewachsen fühlte.“
Schon während des Vikariats hatte Mörike 1827 um Beurlaubung gebeten, kehrte aber 1829 in den Kirchendienst zurück. 1834 bekam er seine eigene Pfarrei in dem Dorf Cleversulzbach nahe Heilbronn. Unter den 600 Einwohnern des Dorfes fühlte er sich isoliert. 1843, mit 39 Jahren, ließ er sich als Pfarrer frühzeitig in den Ruhestand versetzen und zog mit seiner Schwester Klara nach Bad Mergentheim.
Sein lyrisches Schaffen ließ nach, er schrieb fortan vor allem Gelegenheitsgedichte. In den frühen 1850ern verfasste Mörike dann aber zwei bemerkenswerte Prosatexte: „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“ mit der eingewobenen „Historie von der schönen Lau“ und ihrem Zuhause, dem „Blautopf“ bei Blaubeuren; sowie die melancholische Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“ – eine Hommage an den Komponisten des „Don Giovanni“.
Der Dichter war 1851 nach Stuttgart gezogen. Er hatte die katholische Margarete von Speeth geheiratet, zwei Töchter wurden geboren. Nach 20 Jahren Ehe verließ seine Frau ihn, weil sie die Ménage à trois mit Klara nicht mehr ertragen konnte. Eifersucht, wie Dichterkollege Theodor Storm vermutete? Noch kurz vor seinem Tod an einer Lungenentzündung nannte sich Mörike „den traurigsten aller Landfahrer“. Seine Frau war trotz Trennung an sein Sterbebett geeilt.
„Es ist Mörikes Schicksal gewesen, um die letzte Erfüllung, die Harmonie, die in seinem Wesen angelegt, doch immer bedroht war, betrogen zu bleiben“, schrieb rund 90 Jahre später Bundespräsident Theodor Heuss, ebenfalls gebürtiger Schwabe und Schriftsteller. Begraben ist Mörike auf dem Stuttgarter Pragfriedhof.