HAGEN – Ob Beziehungsprobleme, Ärger in der Schule oder Suizidgedanken – die Gründe für einen Anruf bei der Telefonseelsorge der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland sind vielfältig. Längst wenden sich vor allem junge Menschen nicht mehr nur per Telefon an die Beratungsstellen: Die Anfragen per Chat und E-Mail nehmen ständig zu. Seit 1995 bietet die ökumenische Telefonseelsorge neben Gesprächen am Telefon auch eine anonyme Beratung via Internet an.
Als „Erfinderin“ dieser Online-Beratung der Telefonseelsorge gilt Birgit Knatz. Die evangelische Pionierin der Chat- und E-Mail-Seelsorge leitet inzwischen seit 20 Jahren gemeinsam mit einem katholischen Kollegen die Telefonseelsorge Hagen-Mark im südöstlichen Ruhrgebiet und im märkischen Sauerland. Rund eine Million Menschen leben in der virtuellen „Gemeinde“ der Diplom-Sozialarbeiterin.
Täglich erreichen rund 50 Anrufe die knapp 80 ehrenamtlichen Telefonseelsorge-Mitarbeiter. „30 Prozent unserer Klientel sind psychisch Kranke, 20 Prozent Einsame, zehn Prozent wollen uns nur einmal testen, ob es uns auch wirklich gibt und wir gegebenenfalls helfen könnten“, sagt Knatz. „Und dann sind da eben die vielen, vielen Einzelschicksale, jedes anders, jedes gravierend.“
Das Seelsorge-Team ist auf alle Fälle gut vorbereitet. Eineinhalb Jahre dauert die Ausbildung der Ehrenamtler, zweieinhalb Stunden pro Woche wird dabei intensiv geschult. „Unsere Leute bekommen kein Geld, aber sie erhalten so etwas wie einen Mehrwert für ihr Leben“, sagt Knatz, die für ihre innovativen Ansätze bundesweit geschätzt wird und eine Reihe von Fachbüchern geschrieben hat, darunter ein „Handbuch Internetseelsorge“.
Bis zu 30 Stunden sind die Telefonseelsorger monatlich im Einsatz. Sie betreuen in ihren Gesprächen und Online-Kontakten Menschen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten, etwa drei Viertel der Ratsuchenden sind Frauen. Die Zahl der Hilfesuchenden steigt ständig. „Vielleicht ist es die Suche nach Sinn, auch aus Mangel an Religionszugehörigkeit“, vermutet Knatz. „Das Gemeinschaftsgefühl geht verloren, das spüren wir sehr deutlich. Kirche, Vereine, Familien, Vieles bricht weg und lässt eine Leere zurück.“
Bundesweit stehen rund 8000 ausgebildete ehrenamtliche Mitarbeiter Ratsuchenden in über 100 Telefonseelsorgestellen zur Seite. Etwa zwei Millionen Gespräche und Online-Dialoge werden jährlich geführt. Träger der „TelefonSeelsorge“, deren Name markenrechtlich geschützt ist, sind die beiden großen Kirchen in Deutschland.
Die 40 bis 50 Anwärter, die sich pro Jahr für den Bereich Hagen-Mark zu Telefonseelsorgern ausbilden lassen wollen, müssen ihre Internet-Bereitschaft bekunden und entsprechende Fähigkeiten nachweisen. „Wir haben seit jeher einen hohen Vertrauensvorschuss bei den Menschen, den müssen wir auch mit den modernen Kommunikationsmitteln unbedingt weiterhin erhalten“, betont Knatz, die auch ein Institut für Online-Beratung gegründet hat und andere Institutionen berät.
Angefangen hat Knatz als kirchliche Jugendreferentin in Dortmund, ehe sie über eine Supervisionsausbildung nach Hagen zur Telefonseelsorge kam. „Ich war vom ersten Augenblick an erstaunt und beglückt zugleich“, erinnert sie sich. Einen anderen Beruf könne sie sich nicht mehr vorstellen. Wie auch allen anderen Telefonseelsorgern ist ihr der Satz des englischen Pfarrers Chad Varah stets motivierend allgegenwärtig, der im Jahr 1953 mit einer Zeitungsanzeige die Telefonseelsorge ins Leben rief: „Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie mich an!“
• www.telefonseelsorge-hagen-mark.de; Institut für Online-Beratung: www.schreiben-tut-der-seele-gut.de; Homepage von Birgit Knatz: www.birgit-knatz.de.
Lesetipp: Birgit Knatz/Stefan Schumacher: AUS der ZEIT. Eine Geschichte aus 40 Jahren Telefonseelsorge. Luther-Verlag, 88 Seiten, 12,95 Euro.