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Passion – Tanz mit Leidenschaft

John Neumeier hat Ballettgeschichte geschrieben. Furore machte der jetzt 75-jährige Tänzer und Choreograph 1980 in Hamburg mit der Tanzversion eines geistlichen Werks: Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“. Das war neu und anfänglich umstritten

Kiran Steven West

Ein geistliches Werk tanzen – darf man das? Als John Neumeier in der Spielzeit 1980/81 in Hamburg seine Tanzversion der „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach präsentierte – zuerst im „Michel“, dann in der Oper –, löste das heftige Diskussionen aus. Heute zählt seine Choreographie des Bach­schen Meisterwerks zu den Klassikern des Tanztheaters – wie vieles andere, das der gebürtige US-Amerikaner im Laufe seiner langen Karriere geschaffen hat. Am 24. Februar wurde der gefeierte Tänzer und Choreograph 75 Jahre alt.
Neumeier ist unermüdlich. Seit 1973 leitet er das an der dortigen Staatsoper beheimatete „Hamburger Ballett“, was ihn seit etlichen Jahren schon zum dienstältesten Ballettchef der Welt macht. Ans Aufhören denkt er dennoch nicht. Danach gefragt, woher er seine Kraft und Ausdauer nimmt, antwortete er einmal: „Ich denke, es liegt daran, dass ich es eigentlich aus Liebe tue.“
Und nicht nur das: Seine Arbeit sieht der gläubige Katholik von jeher auch als Wirken zur Ehre Gottes. Es war ein Jesuitenpater, Tanzlehrer an der katholischen Marquette-Universität in Neumeiers Heimatstadt Milwaukee, der den jungen Mann darin bestärkte, Tänzer zu werden. Er sei damals unsicher gewesen, in welche Richtung er gehen solle, berichtete Neumeier später immer wieder in Interviews. Father Walsh habe ihm seinen Weg gezeigt.
Und der führte Neumeier in kürzester Zeit ganz nach oben. Über New York ging es nach London und Stuttgart, wo mit John Cranko damals einer der renommiertesten Ballettdirektoren tätig war. Sieben Jahre lang, von 1963 bis 1969, gehörte der junge Amerikaner Crankos Kompagnie an, entwarf dort auch seine ersten Choreographien. Sein Ruf verbreitete sich, und so wurde Neumeier 1969 mit gerade mal 27 Jahren als Ballettdirektor nach Frankfurt am Main berufen. Mit aufregenden Neudeutungen klassischer Handlungsballette („Der Nussknacker“, „Romeo und Julia“) sorgte er für Aufsehen, was ihm schließlich die Einladung nach Hamburg einbrachte.
Dort begann Neumeier bald sein Handlungsfeld zu erweitern. Er erschloss dem Ballett zentrale Werke der Weltliteratur, von Homers „Odyssee“ über Alexan­dre Dumas‘ „Kameliendame“ und Thomas Manns „Tod in Venedig“ bis hin zu Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“. Er gründete eine Ballettschule, der er bis heute als Direktor vorsteht. Und er begann als erster überhaupt, sich Werken der geistlichen Musik zuzuwenden. Nach der „Matthäus-Passion“ nahm er sich unter anderem das Mozart-Requiem, Georg Friedrich Händels „Messias“ und Bachs „Weihnachtsoratorium“ vor.
„Es ist Aufgabe der Kunst – auch der Tanzkunst –, metaphysische Inhalte zu vermitteln. Deswegen habe ich diese Werke gemacht“, begründete Neumeier 2012 in einem Interview mit dem Zeit-Magazin diese ungewöhnliche Stückwahl. Als Gottesdienstersatz aber möchte er diese Aufführungen nicht verstanden wissen. Vielmehr sei es ihm um zentrale christliche Themen wie Schuld und Vergebung gegangen.
Vor allem die „Matthäus-Passion“ hat sich den anfänglichen Querelen zum Trotz als Exportschlager erwiesen. Unter anderem wurde die Choreographie in Berlin und Paris, Venedig und Salzburg, New York, Toronto und Tokio gezeigt. Nicht selten stand dabei Neumeier selbst als Christus auf der Bühne, zuletzt 2005 – im für Balletttänzer biblischen Alter von fast 65 Jahren – bei Aufführungen im Festspielhaus Baden-Baden.
Seine Schüler möchte Neumeier nicht nur zu großartigen Tänzern, sondern auch zu besseren Menschen machen, sagte er vor ein paar Jahren bei einer Veranstaltung in der Katholischen Akademie Hamburg. „Auch wenn sie als Tänzer nicht so viel denken sollen, sollen sie versuchen, immer auch ein größerer Mensch zu sein, indem sie das viele Leid der Menschen nachempfinden.“

Aufführungen der „Matthäus-Passion“ in der Hamburgischen Staatsoper: 14. (Karfreitag), 15. (Karsamstag) und 17. (Ostermontag) April jeweils um 18 Uhr sowie 18. April um 18.30 Uhr. Kontakt: Hamburgische Staatsoper, Telefon (0 40) 35 68 68 (Montag-Samstag, 10-18.30 Uhr), E-Mail: ticket@staatsoper-hamburg.de; Internet: www.staatsoper-hamburg.de.