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Oscar-gekröntes empathisches Frauenporträt “Nomadland”

Eine Frau aus dem Mittleren Westen der USA hat nach der großen Rezession in Folge des Bankencrashs 2008 alles verloren. Sie packt ihre Sachen und bricht mit ihrem Van zu einem Leben als Auto-Nomadin auf.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Erst gewann “Nomadland” von Chloe Zhao 2020 den “Goldene Löwe” beim Filmfestival in Venedig, dann gleich drei “Oscars” für den besten Film, die beste Regie und die beste Hauptdarstellerin: Das Drama erzählt von einer Figur am Rande der US-Gesellschaft, die im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs ihrer Heimatstadt ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlage verloren hat.

Seither driftet die ältere Frau (Frances McDormand) in ihrem Van durch die USA, immer auf der Suche nach Arbeit. Dabei begegnet sie anderen Menschen, die ihr Schicksal teilen, und findet Anschluss an kurzzeitige Gemeinschaften mit anderen modernen Nomaden, bevor sich ihre Wege wieder trennen.

In der Darstellung dieser sogenannten “Van Dwellers”, die in Wohnmobilen, Kleinbussen oder Trailern leben und als Saisonarbeiter durch die USA ziehen, taucht der Film in deren Lebenswelt ein. Das empathische, überwiegend mit Laien besetzte Frauenporträt lenkt den Blick auf sozial marginalisierte Menschen und lebt von der durch sorgfältige Recherche hergestellten Authentizität. Mitfühlend, aber nie sentimental erforscht der Film die schwierigen Lebensumstände seiner Figuren und betont zugleich ihre Stärke und Würde.

Fern (Frances McDormand), Anfang 60, ist “on the road”. Nicht in einem Wohnmobil der höheren Preisklasse, und auch nicht, um sich ein paar Sommerwochen lang ein bisschen Freiheit um die Nase wehen zu lassen, bevor es zurück ins Büro geht. Sie ist vielmehr immer unterwegs, fährt von einem Job zum nächsten, frittiert Pommes in einem Diner, schrubbt auf einem Campingplatz Toiletten oder hilft bei der Zuckerrübenernte.

Ihr Zuhause ist ein ausgebauter Ford-Transporter, den sie “vanguard”, Vorhut, genannt hat. Sie übernachtet auf Parkplätzen, vor Supermärkten, neben dem Highway oder inmitten der freien Natur. Manchmal wird Fern nachts durch ein energisches Klopfen gegen die Tür vertrieben, aber meist lässt man sie in Ruhe. Fern ist eine moderne Nomadin. Sie hat sich dieses Leben zumindest anfangs nicht freiwillig ausgesucht.

Die Frau mit ihren kurzen, strubbeligen Haaren hat sich die Regisseurin, Drehbuchautorin und Editorin Chloe Zhao für ihren dritten, vielfach preisgekrönten Spielfilm “Nomadland” erdacht. Unter anderem gab es nach dem Goldenen Löwen 2020 in Venedig 2021 die Oscars für Besten Film, Beste Regie und die Beste Hauptdarstellerin.

Mag diese Fern auch fiktiv sein, führt sie doch in eine sehr reale und eher unbekannte Lebenswirklichkeit hinein, die die US-amerikanische Journalistin Jessica Bruder 2017 in ihrem Buch “Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert” beschrieben hat. Es ist die Welt der “van dwellers”, also der Frauen und Männer, viele von ihnen im Rentenalter, die in Wohnmobilen, Kleinbussen oder Trailern leben und oft als Saisonarbeiter durch die USA ziehen. Die meisten von ihnen haben mal ein bürgerliches Leben geführt, bis die Rezession ihre Jobs gekillt oder ihre Ersparnisse verschlungen hat.

Es ist ein Stoff wie gemacht für Chloe Zhao. Bereits in “Songs My Brother Taught Me” (2015) und “The Rider” (2017) erzählte sie von Schicksalen, die leicht übersehen werden. Dabei schaut sie nicht aus der Distanz zu, sondern begibt sich mitten hinein und integriert die Menschen, um die es ihr geht, indem sie sie als Schauspielerinnen und Schauspieler engagiert, in ihren Häusern und Wohnungen dreht und sich von ihrem Alltag und ihren Erfahrungen inspirieren lässt. Erfahrungen mit realen “van dwellers”

In “Nomadland” sind das solch reale Personen wie Linda May, die wie Fern zur Weihnachtszeit bei Amazon schuftet, oder Bob Wells, Aktivist und Begründer des seit 2010 stattfindenden “Rubber Tramp Rendezvous” in Quartzsite, Arizona. Sie spielen mehr oder weniger sich selbst.

Getragen wird der Film von einer zurückgenommenen agierenden Frances McDormand, die ganz und gar in die Gemeinschaft der Umherreisenden eintaucht und zu einer der ihren wird, wenn sie nachts mit am Lagerfeuer sitzt oder sich vor ihrem Van aufhält und häkelt. Fern ist eine Frau, die alles verloren hat: ihren Mann, ihren Job, ihr Zuhause und ihre Stadt. Jahrelang hat sie in Empire, einem Industriestädtchen in Nevada, gelebt. Die reale Geschichte des Ortes ist Ausgangspunkt der Story. Als im Jahr 2011 die Mine dichtmacht, bedeutet das auch das Aus für den Ort. Sogar die Postleitzahl von Empire wird gelöscht.

Die Menschen müssen ihre firmeneigenen Häuser verlassen, auch Fern. Als sie beim Packen plötzlich die Jacke ihres verstorbenen Mannes in den Händen hält, in die sie fortan immer wieder hineinschlüpft, flackert die Trauer über den Verlust eines ganzen Lebens auf.

Natürlich lässt sich “Nomadland” auch als Anklage gegen die kapitalistische US-Gesellschaft lesen. Doch an einem politischen Kommentar scheint Chloe Zhao gar nicht so sehr interessiert. Ihr geht es vor allem um die persönliche Geschichte einer Frau, die vor dem Nichts steht, dies als Herausforderung annimmt, sich allmählich neu entdeckt und schließlich in einem neuen Leben aufgeht.

Sie wollte, so Zhao, mit “Nomadland” eine “ganz unverkennbare amerikanische Identität, den wahren Nomaden” erforschen. Und so wird Fern, die wie eine Pionierin aufbricht und sich neu erfindet, in “Nomadland” fast zu einer Westernheldin. Allerdings zu einer, die nicht verklärt wird.