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Ökumene-Experte: Die Mehrheit folgt ihrem Herzen

Der katholische Theologe Thomas Söding hat die vor 25 Jahren verabschiedete Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen Lutheranern und Vatikan als einen Durchbruch bezeichnet. Allerdings sei er „ein wenig im Zweifel“ darüber, wie weit das Dokument das Denken auf evangelischer und katholischer Seite bislang geprägt habe, sagte der Bochumer Theologieprofessor und Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Mit der Erklärung hatten der Lutherische Weltbund und die römisch-katholische Kirche 1999 unter anderem jahrhundertealte gegenseitige Lehrverurteilungen beigelegt.

epd: Am 31. Oktober 1999 wurde die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen Lutheranern und Vatikan verabschiedet. Der Streit um die aus der Bibel abgeleitete Lehre von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott spaltete seit dem Mittelalter die Christenheit. Daher gilt das Dokument als Meilenstein in der Ökumene. Hat sich dieser Optimismus im Rückblick bewahrheitet?

Thomas Söding: Meines Erachtens ist die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre ein doppelter Durchbruch gewesen. Erstens hat man in der sogenannten Konsensökumene vereinbart, dass theologische Unterschiede erlaubt sind. Dies betrifft nicht nur die Ausdrucksweise, sondern auch die Gewichtung von Themen. Das Entscheidende ist, dass diese Unterschiede nicht kirchentrennend sind. Damit wird der Raum geöffnet für eine nicht unbegrenzte, aber bestimmte Vielfalt von Deutungen, die die Zusammengehörigkeit nicht behindert. Das ist meines Erachtens wegweisend gewesen.

epd: Hat die Gemeinsame Erklärung das Denken in beiden Kirchen verändert?

Söding: Wie weit sie jetzt wirklich schon das Denken auf evangelischer und katholischer Seite geprägt hat, da bin ich ein wenig im Zweifel. Das Thema Rechtfertigung galt aber zweitens lange Zeit als der absolute Dissenspunkt zwischen Protestanten und Katholiken. Daher ist es historisch, dass man es geschafft hat, diesen articulus stantis et cadentis ecclesiae – also der Glaubensartikel, mit dem die Kirche steht und fällt – als ein gemeinsames Bekenntnis zu formulieren. Ich hatte mich damals sehr über die katholische Glaubenskongregation geärgert, die zwischendurch noch einmal versucht hat, die Reißleine zu ziehen. Gott sei Dank hat damals Kardinal Ratzinger das Scheitern verhindert. Man musste allerdings auch gegen protestantische Kollegen argumentieren, die gesagt haben, durch die Gemeinsame Erklärung würde die Rechtfertigungslehre verwässert.

epd: Was hat die Gemeinsame Erklärung für die Ökumene bewirkt?

Söding: Wenn es um deren Rezeption, also deren Annahme in den Kirchen geht, gibt es sehr viel auf der Habenseite zu verbuchen. Diese zunächst bilaterale Erklärung zwischen Lutheranern und Rom ist inzwischen multilateral angekommen. Das ist spektakulär.

epd: Sie meinen damit die Entwicklung, dass sich 2006 der Weltrat Methodistischer Kirchen und 2017 die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen und die Anglikanische Gemeinschaft der Gemeinsamen Erklärung angeschlossen haben?

Söding: Ja, die Methodisten waren unglaublich wichtig als Brückenbauer. Reformierte und Anglikaner haben nicht einfach unterschrieben, sondern sich positiv positioniert. Das finde ich sehr wichtig. Klar, ich kenne auch Leute, die diesen Erfolg kleinschreiben wollen. Aber ich lasse mir das nicht kleinreden.

epd: Wo liegen für Sie die Schwächen der Gemeinsamen Erklärung?

Söding: Der Erklärung zur Rechtfertigungslehre fehlt die ekklesiologische Konkretion, also die konkrete Anwendung im kirchlichen Leben. Daran wird jetzt im Nachhinein weitergearbeitet. Aus katholischer Sicht reicht die Einigkeit in der Rechtfertigungslehre allein nicht aus, um eine volle Kirchengemeinschaft zu erklären. Sie ist aber ein notwendiger Schritt dafür. Zu den weiteren Elementen zählen sowohl das Sakrament des geweihten Amtes – verkörpert durch Bischöfe, Priester und Diakone – als auch das Geheimnis der Eucharistie, beides verbunden im Verständnis der Kirche.

epd: Wie kann die Gemeinsame Erklärung fortgeschrieben werden?

Söding: Der Lutherische Weltbund und der Päpstliche Einheitsrat haben das Dokument „Taufe und Wachstum in der Gemeinschaft“ („Baptism and Growth in Communion“) erarbeitet. Darin wird versucht, einen Schritt weiter zu gehen. Die Rechtfertigungslehre ist eine theologische Lehre, die Taufe aber ein Sakrament. Nach jahrzehntelangen Unklarheiten wird die Taufe seit einiger Zeit wechselseitig anerkannt. Allerdings gab es keine tragfähige ökumenisch theologische Begründung für diese wechselseitige Anerkennung. Das ist jetzt nachgeholt worden. Allerdings muss ich leider sagen, dass die Studie zur Taufe insofern an der katholischen Seite gescheitert ist, dass ihr die Konsequenzen im Kirchen- und Abendmahlsverständnis zu weit gingen.

epd: Sie beziehen sich darauf, dass die katholische Kirche das 2019 veröffentlichte Dokument ‘Taufe und Wachstum in der Gemeinschaft’ bisher nur als Studientext betrachtet, nicht als offiziell anerkanntes Papier. Wie kann es jetzt weitergehen?

Söding: Der nächste Schritt ist jetzt, eine weitere gemeinsame Erklärung zu machen. Nachdem wir uns über die Taufe durchaus im Grundsatz einig sind, können wir uns nun auf weitere wichtige Themen konzentrieren. Unser nächstes Ziel ist eine gemeinsame Erklärung zu drei zentralen Punkten: zum Verständnis der Kirche, zur Bedeutung der Eucharistie respektive des Abendmahls sowie zur Rolle des geistlichen Amtes. Dazu muss eine Kommission gebildet werden. Es herrschte aber lange Zeit Stillstand. Durch die Kritik am Tauf-Dokument sind die Grundlagen fraglich geworden, auf denen man überhaupt weiterarbeitet. Das heißt: Es hakt und hakt und hakt. Und im Moment ist kein Durchbruch erkennbar.

epd: Haben Sie noch Hoffnung auf Fortschritte in der Praxis, etwa mit Blick auf ein gemeinsames Abendmahl?

Söding: Aus dem Konsens in der Rechtfertigungslehre müssen ekklesiologische Konsequenzen abgeleitet werden, auch praktische Veränderungen in den Kirchen. Das ist unstrittig. Aber die Konsequenzen sind mit der Verständigung über die Rechtfertigungslehre noch nicht gegeben, sondern sie müssen noch erarbeitet werden. Sie könnten aber mit dieser Methode des differenzierten Konsenses erarbeitet werden.

epd: Eilt die gelebte Ökumene in den Gemeinden nicht den offiziellen Dialogen und Beschlüssen voraus? Ist die praktische Zusammenarbeit an der Basis nicht schon weiter fortgeschritten als die Positionen der Kirchenleitungen beider Konfessionen?

Söding: Ja, das ist auch so, Gott sei Dank weit verbreitet. Aber ich muss ein bisschen differenzieren. Ich sehe nicht ohne Sorge kleine, aber lautstarke Gruppen auf beiden Seiten, die gegen Ökumene sind. Auch in den Kirchen gibt es den Bazillus dieses identitären Denkens, das sich durch Abgrenzung profilieren will.

epd: Vergleichbar mit den Identitären auf politischer Ebene?

Söding: Gesellschaftliche Trends gehen an den Kirchen nicht vorbei. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat allerdings gezeigt, dass die Bereitschaft der großen Mehrheit, etwas zusammen zu machen, sehr groß ist. Die Menschen entscheiden selber, wie sie das mit Abendmahl und Eucharistie halten. Die ganz überwiegende Mehrzahl folgt ihrem Herzen.