Der Schrecken beginnt mit einer Wandzeitung. Am 25. Mai 1966 hängt das Papier an der Peking-Universität und hetzt gegen Lehrer der Hochschule. Es ist die Initialzündung für das, was „Große Proletarische Kulturrevolution“ genannt wird – für Denunziation, Terror, Mord: Junge, indoktrinierte und fanatisierte Chinesen gehen im ganzen Land gegen vermeintliche Konterrevolutionäre und Volksfeinde vor.
Der 72-jährige Mao Tse-tung, der „Große Vorsitzende“ der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), ermutigt sie: Es sei „gerechtfertigt, gegen die reaktionären Elemente zu rebellieren“. Bereits am 16. Mai hatte das Politbüro der KPCh die neue Kampagne bekannt gegeben.
Mit der „Kulturrevolution“ will Mao die Kontrolle zurückgewinnen und die Partei von seinen Gegnern säubern. Vor allem Liu Shaoqi, der Mao 1959 als Staatspräsident abgelöst hatte, und Generalsekretär Deng Xiaoping hatten Mao zuvor an den Rand gedrängt. Der alternde Revolutionsführer hatte immer gravierendere Fehlentscheidungen getroffen. Ein Beispiel dafür ist der „Große Sprung nach vorn“. Er sollte ab dem Ende der 1950er Jahre aus dem agrarisch geprägten China eine industrielle Großmacht machen. Bauern mussten primitive Hochöfen errichten und Stahl kochen.
Große Hungersnot von 1959 bis 1961
China erzeugte mit dieser Methode aber nicht nur minderwertiges Metall, sondern auch eine Hungerkatastrophe. Denn die Bauern konnten während der Arbeit an den Schmelztiegeln nicht ihre Felder bestellen. Außerdem mussten sie Pflüge, Hacken und sogar ihre Woks abgeben, die in die Hochöfen wanderten. Etwa 30 bis 40 Millionen Chinesen verhungerten zwischen 1959 und 1961.
1966 ruft Mao die Jugend zur Revolution gegen die „reaktionären“ und „konterrevolutionären“ Elemente und zum Schlag gegen die „Alten Vier“ auf: alte Ideen, alte Kultur, alte Bräuche und alte Gewohnheiten. „Zerschlagt das Alte, bombardiert die Hauptquartiere!“, ruft er seiner Gefolgschaft zu.
Überall im Land bilden sich „Rote Garden“. Wen sie für konterrevolutionär halten, den schlagen, beschimpfen, foltern sie. Die Opfer müssen öffentlich ihre angeblichen Irrtümer bekennen. Lynchmord kommt häufig vor. Viele der Gedemütigten bringen sich anschließend vor Scham um. Die Garden plündern und verwüsten in den ersten Wochen der „Kulturrevolution“ allein in Peking rund 30 000 Wohnungen.
Oft suchen sich die Garden ihre Opfer willkürlich aus, ein falsches Wort reicht mitunter schon. Viele junge Chinesen nutzen die „Kulturrevolution“ zur persönlichen Abrechnung mit Autoritäten: Die Gewalt trifft häufig Lehrer, Wissenschaftler und Dozenten. Die Rotgardisten brechen Pianisten die Finger oder sperren Professoren in Hühnerställe. Vereinzelt denunzieren sogar Kinder ihre Eltern. „Die Liebe zu Mutter und Vater gleicht nicht der Liebe zu Mao Tse-tung“, heißt es in der Propaganda.
Wie von Mao beabsichtigt, richtet sich der Furor der Jugend auch gegen Parteifunktionäre oder Angestellte der Verwaltung. Am 5. August 1967 stürmen Rotgardisten Liu Shaoqis Residenz und verprügeln den Präsidenten. Er stirbt zwei Jahre später im Gefängnis, inmitten seines Erbrochenen und seiner Exkremente.
Mao: „Mit Chaos Ordnung erreichen“
Zwei Jahre lang herrschen Anarchie und Chaos. Schulen und Universitäten schließen, auch einzelne Betriebe. Schon bald geraten die Rotgardisten selbst aneinander, beschuldigen sich gegenseitig, die Worte Maos falsch auszulegen. Auf der einen Seite stehen oft die Abkömmlinge von Beamten, Soldaten und Kadern, auf der anderen Kinder aus Bauern- oder Arbeiterfamilien.
In Guangzhou, früher bekannt als Kanton, bekämpfen sich Garden im Jahr 1967 mit Messern, Äxten und Steinen. Dabei sterben etwa 500 Menschen. Mit Loren werden die zum Teil grausam verstümmelten Leichen abtransportiert. „Mit Chaos auf Erden erreicht man Ordnung im Land“, sagt Mao.
1968 entscheidet der „Große Vorsitzende“, dass er sein Ziel erreicht habe. Er braucht die „Roten Garden“ nun nicht mehr und entsendet Militär und Polizei gegen sie. „Ein bisschen Bürgerkrieg“, sagt er, „was kann daran schon so schlimm sein?“. Viele Rotgardisten müssen aufs Land, um „von den Bauern zu lernen“, wie Mao sagt. Dort steckt man sie in Umerziehungslager.
Aber noch bis 1976, bis zu Maos Tod, werden Intellektuelle verfolgt. Am Ende der Kulturrevolution sind zwischen 1,1 und 1,6 Millionen Menschen tot, schätzt der Sinologe Daniel Leese von der Universität Freiburg. Etwa 60 Prozent aller Partei-Funktionäre verlieren ihren Posten.
Nach 1976 setzt sich in der Kommunistischen Partei Chinas wieder der Pragmatismus durch. Deng Xiaoping, der Erste Sekretär des Zentralkomitees, übersteht die Kulturrevolution im Hausarrest und später im Exil. Nun steigt er in der Hierarchie wieder auf. Deng wird zum Vater des chinesischen Wirtschaftswunders.
Noch lange wirft die Kulturrevolution einen Schatten auf die chinesische Politik. 1989 protestiert eine studentische Demokratiebewegung auf dem Tiananmen, dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens in Peking. Die Kommunistische Partei unter Deng lässt Panzer auffahren und auf die Demonstranten schießen. Hunderte Menschen sterben. Sinologe Leese sieht in der Kulturrevolution einen der Gründe für das Durchgreifen am Tiananmen. Denn viele der Hierarchieoberen hätten ebenso wie Deng unter dem Terror der Garden gelitten. „Zweifellos war die Erfahrung der Massenmobilisierung ein Grund, die Bewegung zu unterbinden“, sagt der Sinologe.
• Lesetipps: Daniel Leese: „Die chinesische Kulturrevolution. 1966 bis 1976“, C.H. Beck-Verlag, 128 Seiten, 8,95 Euro; eine Kurzbiographie Mao Tse-tungs gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung im Internet unter http://u.epd.de/ixy.