Eine Reise buchen, eine Jeans kaufen, sich über Promiklatsch informieren: All das geht heute, na klar, über das Internet. Was heute selbstverständlich scheint, war 1995 noch neu und manchem ein wenig suspekt. Nicht so Birgit Knatz aus Hagen: Gemeinsam mit zwei Kollegen brachte sie damals die TelefonSeelsorge als erste deutschsprachige Beratungsstelle ins World Wide Web. Heute sind E-Mail und Chat aus der Beratung nicht mehr wegzudenken.
„Damals hatten wir plötzlich eine neue Zielgruppe“, erinnert sich die Sozialarbeiterin. Junge Männer, die mit Computerspielen groß geworden waren – und sich nun eine Freundin wünschten, „die möglichst aussehen sollte wie Lara Croft, die Heldin des PC-Abenteuers Tomb Raider“, so formuliert es Knatz. Damals erreichten die Pioniere gut 250 Anfragen im Jahr, heute sind es im Schnitt 40 am Tag.
„Worte wirken schriftlich anders als mündlich“, erklärt Knatz. Die Stimme, die in der klassischen Tele-fonseelsorge besonders wichtig ist, fällt weg. „Bei Chats oder Mails muss die beratende Person ein Gefühl für diese Zwischentöne entwickeln, die nicht transportiert werden.“ Auch Smileys und Emojis kommen kaum vor, so die Beobachtung der Expertin: „Mit Seelsorgern und Seelsorgerinnen kommunizieren die Menschen anders als in ihren WhatsApp-Gruppen.“ Die schriftliche Form biete viele Vorteile. „Oft haben die Ratsuchenden etwas Schlimmes erlebt und erklären, dass sie mit niemandem darüber sprechen könnten – aber schreiben.“ Das betrifft Themen wie Missbrauch und Gewalt, aber auch Erfahrungen des Scheiterns, für die die Betroffenen sich schämen. Wer genau liest und nachfragt, könne eine Beziehung ebenso aufbauen wie am Telefon, meint Knatz.
Auch Suizid ist ein Thema, das Menschen sich schriftlich anzusprechen trauen. „Wenn jemand daran denkt, sich das Leben zu nehmen, hält er sich für den einsamsten Menschen der Welt“, sagt Knatz. Die Berater hören zu, sind für die Betroffenen da. Sie rufen nicht die Polizei und werden geschult, um vermeintlich Naheliegendes nicht zu sagen. „Ein Mann hat sich bedankt, dass ich ihm nicht gesagt habe, er solle doch mal an seine Kinder denken“, so Knatz. Dass sie nicht jedem helfen können, wissen die Beraterinnen. „Eine Frau hat am Ende eines Gesprächs gesagt: Danke, dass Sie da waren – heute bringe ich mich nicht um.“
Andere Hilfsorganisationen wie die Caritas bieten ebenfalls Online-Beratung an: Junge Menschen können sich anonym per E-Mail an die Online-Suizidprävention (www.u25-deutschland.de) wenden. Ihnen antworten eigens ausgebildete junge Ehrenamtliche. Auch versuchen Berater, im Netz präsenter zu werden: Der Dachverband „Nummer gegen Kummer“ etwa ist seit Kurzem auch beim Bilderdienst Instagram vertreten. Ziel sei es, die unterstützenden Angebote bei der jungen Zielgruppe bekannter zu machen. Beratung finde dort aus Gründen der Anonymität und Vertraulichkeit nicht statt.
Armin Schmidtke sieht „einen gewissen Hype um die Online-Beratung“. Der Psychologe leitet die AG Primärprävention beim Nationalen Suizidpräventionsprogramm (NaSPro). „Es ist eine gute Sache, wenn ein Jugendlicher sich weniger allein fühlt. Langfristig braucht es aber einen persönlichen Kontakt“, meint er. Teils werde Suizid in Blogs, Foren und Sozialen Medien verharmlost oder sogar verherrlicht. Bisweilen verabredeten Menschen sich online zum gemeinsamen Suizid, auch kursierten gefährliche Mutproben. „Insofern halte ich das Internet im Zusammenhang mit Suizid für eher gefährlich“, sagt Schmidtke.
Zudem warnt der Experte vor „profundem Nichtwissen“, wenn Menschen in guter Absicht, aber ohne Fachkenntnis zu helfen versuchten. „Das sollte nur jemand mit entsprechendem Wissen und Ausbildung machen“, betont er. Wer sich selbst beweisen wolle, dass er ein guter Mensch sei, gefährde andere – und letztlich vielleicht auch sich selbst: „Sich solche Dinge anzuhören, kann sehr belastend sein.“ Es ist wichtig zu wissen, wie man hilfreich sein kann und sich abzugrenzen.
Bei den Hilfsangeboten sollte man darauf achten, dass sie seriös sind. „Es gibt Esoteriker, selbsternannte Psychologen, natürlich auch Abzocke“, sagt Knatz. Sie selbst postet in einigen Foren erkennbar als Seelsorgerin. Denn, so Knatz: „Eben weil es den Schmutz gibt, sollten seriöse Anbieter erst recht präsent sein.“
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Nicht mehr wegzudenken
Beratung und Suizidprävention in digitalen Zeiten: Vielen Menschen fällt es gerade in Notsituationen leichter, sich schriftlich auszudrücken. Seit 1995 bietet die Telefonseelsorge auch die Möglichkeit, sich per Chat oder E-Mail an sie zu wenden

© epd-bild / Hanno Gutmann