Ihre Nase und Hände sind abgeschlagen, bei manchen Figuren hat auch das kleine Kind seinen Kopf eingebüßt. So als hätte man sie „am sündigen Glied“ bestraft, wie Gerichte im Mittelalter urteilten. Die gotische Madonnenfigur mit dem Jesusknaben in ihren Armen aus westfälischem Privatbesitz wie auch die beschädigte Madonna aus der Kapelle zu Wilbasen (Blöomberg) sind stumme Relikte aus der Zeit des „Bildersturms“, der die vor 500 Jahren maßgeblich von Martin Luther mit seinen 95 Thesen ausgelöste Reformation begleitete.
Damals stürmten gewaltbereite Handwerker auch in fast allen Städten des Weserraumes die Kirchen und Klöster, zerschlugen dort Altäre und Heiligenfiguren, zerstörten Bildnisse und hinterließen ein Bild der Verwüstung. Und in Thüringen erhoben sich in den 1520er Jahren die Bauern gegen die bis dahin als gottgewollt geltende hierarchische Ständeordnung, erläutert Heiner Borggrefe. Ursächlich dafür sei eine über Jahrzehnte gewachsene starke Abneigung in der Bevölkerung gegenüber der alten Kirche und ein starker Veränderungswille, der durch die Reformation jetzt starken Auftrieb erhielt und sich hier in einer ersten Phase emotional entladen habe.
Im Weserraum bereits in den 1520er Jahren
Der Kurator der großen Reformationsausstellung „Mach‘s Maul auf! Reformation im Weserraum“, die ab dem 3. September im Weserrenaissance-Museum Schloss Brake in Lemgo zu sehen ist, will mit der für ein breites Publikum konzipierten Schau manches ins rechte Licht rücken. Die Reformation sei weder über Nacht gekommen, noch sei sie gänzlich friedlich verlaufen.
Rund 120 Exponate – Gemälde, Skulpturen, Möbel, Grafiken und künstlerisch gestaltete Gebrauchsgegenstände des Alltags – gewähren Einblicke in diese unruhige vom gesellschaftlichen Umbruch geprägte Epoche der Kirchengeschichte. Und mehr als das dokumentiert die Schau neue und überraschende wissenschaftliche Erkenntnisse. Insbesondere die, „dass entgegen landläufiger Meinung und in der Vergangenheit kaum beachtet die Reformation hier im Weserraum und im weiteren Sinne in Nordwestdeutschland früher etabliert war als in Sachsen oder Sachsen-Anhalt“, wie Borggrefe betont.
Als entscheidende politische Wegbereiter der Reformation in diesem Gebiet bereits in den 1520er Jahren nennt der Kurator in Celle Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg, der sich als erster Fürst zur Reformation bekannt habe, und vor allem in Kassel Landgraf Philipp I. von Hessen – genannt „der Großmütige“ –, der mit der Einführung des neuen Bekenntnisses den Maßstab für die Reformation in Norddeutschland setzte. Letzterer gilt als einer der bedeutendsten Landesfürsten im Zeitalter von Reformation und Renaissance im Heiligen Römischen Reich.
Mit der Reformation gleichsam aufgehoben wird die mittelalterliche hierarchische Ordnung mit dem Papst als, so Borggrefe, „mächtigsten Mann der Welt im Mittelalter“ an der Spitze der alten Kirche, die sich als „Mittlerin zwischen dem Himmel und den mit der Erbsünde belasteten Menschen“ verstand. „An ihre Stelle tritt die Landeskirche, in der der jeweilige Landesherr, Fürst oder in den freien Städten die städtische Obrigkeit die Macht annimmt“, erläutert Borggrefe. All das werde in der Ausstellung entsprechend dokumentiert und verständlich dargelegt.
Besonders Schulklassen und Kindergärten hat Borggrefe beim Schwerpunkt Druck- und Verlagswesen mit seinen für die rasche Verbreitung der reformatorischen Ideen maßgeblichen technischen Neuerungen jener Zeit im Blick. So lädt eine nachgebaute Gutenberg-Druckerpresse zum Druck von Flugblättern ein.
Auch dass der Gesang in den Kirchen in deutscher Sprache als Ausdruck des neuen Bekenntnisses eine ganz wichtige Funktion hatte für die nachhaltige Verbreitung reformatorischen Gedankenguts, lässt die Ausstellung nachempfinden. Zu hören sind Kostproben lutherischer Kirchenlieder, aufgenommen von der Lemgoer Marienkantorei. Wenn man so will, ist das die schöne Seite des neuen Bekenntnisses, dessen Durchsetzung anfänglich oft rohe Gewalt bestimmte, wie die von einem facettenreichen Begleitprogramm und einem didaktisch aufbereiteten Handbuch flankierte Ausstellung zeigt.
Die Schau im Weserrenaissance-Museum, die den Verlauf im Weserraum und in Nordwestdeutschland „rauf bis Oldenburg und Emden“ (Borggrefe) veranschaulicht, ist Teil einer Ausstellungs-Trilogie in drei Museen in Lippe im Jahr des 500. Reformationsjubiläums. So ist zeitgleich ab 3. September im Lippischen Landesmuseum Detmold „Machtwort! Reformation in Lippe“ zu sehen. Die Grafschaft wurde mit Ausnahme des seit 1533 lutherischen Lemgo um 1600 unter Simon VI., Reichsgraf und Landesherr der Grafschaft Lippe-Detmold, evangelisch-reformiert.
Und jetzt am 27. August zum Auftakt startet im Hexenbürgermeisterhaus Lemgo und in den lutherischen Kirchen St. Marien und St. Nicolai mit „Glaube, Recht & Freiheit. Lutheraner und Reformierte in Lippe“ die Schau, die sich nach Informationen des Landesverbands Lippe schwerpunktmäßig mit der Durchsetzung der Reformation in den 1530er Jahren in Lemgo befasst. Beleuchtet werden dabei auch Rolle und Wirkungen des sogenannten „Röhrentruper Prozesses“ von 1617, der bis ins 19. Jahrhundert das Zusammenleben von Lutheranern und Reformierten in Lemgo und Lippe regelte.
Alle drei Sonderschauen enden am 7. Januar 2018. Wer sie besucht, erhält einen umfassenden Einblick in die Thematik Reformation und ihre Auswirkungen im Weserraum, in der Grafschaft Lippe und der Stadt Lemgo, versprechen die Ausstellungsmacher.
• Museum Hexenbürgermeisterhaus Lemgo, Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10-17 Uhr, am 24., 25. und 31. Dezember sowie am 1. Januar geschlossen, Telefon (0 52 61) 2 13-2 76, E-Mail: museen@lemgo.de. Internet: www.glauberechtundfreiheit.de. Führungen sowie museumspädagogisches Begleitprogramm nach telefonischer Voranmeldung. Begleitpublikation: Andreas Lange, Lena Krull, Jürgen Scheffler (Herausgeber): Glaube, Recht und Freiheit. Lutheraner und Reformierte in Lippe. Verlag für Regionalgeschichte, 408 Seiten, 24 Euro.
• Lippisches Landesmuseum Detmold, Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag, 10-18 Uhr, Samstag bis Sonntag und an Feiertagen, 11-18 Uhr, am 24., 25. und 31. Dezember sowie am 1. Januar geschlossen. Telefon (0 52 31) 99 25-0/30, E-Mail: shop@lippisches-landesmuseum.de, Internet: http://lippisches-landesmuseum.de/sonderausstellungen/machtwort/. Führungen und Begleitprogramm. Katalog zur Ausstellung, 180 Seiten, 19 Euro.
• Weserrenaissance-Museum Schloss Brake. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10-18 Uhr, an Feiertagen, am 24., 25. und 31. Dezember sowie am 1. Januar geschlossen, Telefon (0 52 61) 94 50-10, E-Mail: Weserrenaissance-Museum@t-online.de, Internet: http://www.machs-maul-auf.de/; www.wrm.lemgo.de.